In vielen Filmen von Woody Allen machen die Protagonisten aus ihrer Abneigung gegen Rockmusik keinen Hehl, wohl durchaus stellvertretend für den Filmemacher selbst. Ein bisschen ironisch ist das schon, hat Allens Werk doch ziemlich viel gemein mit beispielsweise dem der New Yorker Punkrock-Band The Ramones. So wie die Punkrocker ihre drei oder vier Akkorde fleißig neu sortierten, um unzählige zweiminütige Songs in die Welt zu schicken, so reorganisiert auch Allen seit geraumer Zeit immer wieder ähnliche Motive und Figurenkonstellationen und behandelt altbekannte Themen, je nach Auslegung obsessiv, routiniert oder gelangweilt. Weil er seit inzwischen mehr als vier Jahrzehnten schreibt und Regie führt und im Jahrestakt Filme dreht, lassen die wiederkehrenden Elemente jeden neuen Film wie einen alten Freund erscheinen, der einmal im Jahr auf ein paar Büchsen Bier oder, hier passender, eine Flasche Wein vorbeischaut. Wenn man Allens repetitivem Schaffen wohlgesonnen ist, freut man sich über den Besuch, obwohl freilich nicht jeder einen perfekten Abend bedeutet. Manche Abende zehren etwas zu bemüht von der Vergangenheit, und man hätte sich vielleicht eine längere Pause gewünscht, um sich wieder mehr zu sagen zu haben. Andere dagegen lassen fast völlig vergessen, wie wenig Zeit vergangen ist und erinnern an das erste Kennenlernen.
„Ich sehe den Mann deiner Träume“ jedenfalls, der an Allens 75. Geburtstag in die deutschen Kinos kommt, ist mal wieder ziemlich gut geworden und weckt Erinnerungen an seinen großen Ensemblefilm „Hannah und ihre Schwestern“. Es geht natürlich um Beziehungen und die dazugehörigen Trennungen, um Torschlusspanik und das verzweifelte Streben nach dem Glück oder zumindest dem, was danach aussieht, weil das Gras auf der anderen Seite des Flusses immer so viel grüner zu sein scheint. Etwas aber muss passieren, weil der Zug irgendwann endgültig abgefahren ist und dann jener „tall, dark stranger“ kommt, von dem im Originaltitel die Rede ist und dem jeder Mensch eines Tages begegnen muss. Alfie, der sein Älterwerden nicht wahrhaben will, hat sich wegen eines jungen Callgirls nach 40 Jahren Ehe von Helena getrennt. Die ist mit den Nerven am Ende und nach einem gescheiterten Selbstmordversuch auf die Prophezeiungen einer Wahrsagerin angewiesen, um ihr Leben halbwegs in den Griff zu bekommen. Ihre Tochter Sally glaubt zwar nicht an Weissagungen, unterstützt die Mutter aber, denn sie weiß, wie gut ihr die esoterischen Sitzungen tun. Sally selbst hat Probleme mit ihrem Mann Roy, einem Schriftsteller, der seit einem ersten Achtungserfolg nichts mehr zustande bringt. Unzufrieden mit der Gesamtsituation verguckt sich Roy prompt in die schöne Nachbarin und spinnt einen kühnen Betrugsplan, während seine Frau Gefühle für ihren verheirateten Chef entwickelt.
Woody Allens neuer Film präsentiert das Ernste und das Komische mit jener Leichtigkeit, die seine besten Filme auszeichnete und die der Regisseur mit „Vicky Cristina Barcelona“ wieder gefunden zu haben scheint. Obwohl vor fünf Jahren ausgerechnet „Match Point“ nach einer längeren Durststrecke wieder ein Erfolg bei Kritik und Publikum war – eine Quasi-Neuauflage des ungleich vielschichtigeren „Verbrechen und andere Kleinigkeiten“ aus dem Jahr 1989 –, funktionierten Allens Krimi- und Thrillerplots mit Ausnahme von „Verbrechen …“ selten wirklich gut, weil sie im Vergleich zu anderen Genrestücken zu reißbrettartig waren – siehe etwa „Scoop“ oder „Cassandras Traum“. Allens neuer existenzialistischer Tragikomödie dagegen, in der es nicht um Mord und Totschlag, sondern um eher alltägliche Sinnkrisen geht, gelingt auf herausragende Weise die Balance zwischen Überzeichnung und Figurentiefe. Wie Allens Charaktere sich verrennen, um jemanden zu beeindrucken und / oder ihre Selbstachtung wiederzuerlangen, das ist einerseits äußerst amüsant, andererseits aber auch todtraurig. Dass beides funktioniert, ist einer selbst für Woody-Allen-Verhältnisse herausragenden Schauspielerriege zu verdanken, wobei eher unbekannte Entdeckungen wie Lucy Punch und Newcomer wie Freida Pinto sich keineswegs hinter etablierten Stars wie Naomi Watts, Anthony Hopkins oder Josh Brolin verstecken müssen.
Nur damit keine falschen Vorstellungen aufkommen: Versöhnliches kann man von Woody Allen wohl nicht mehr erwarten, und „Ich sehe den Mann deiner Träume“ ist sicherlich kein Feel-Good-Movie geworden. Das Leben ist einfach ein zu böser Witz, und der Drehbuchautor Allen, das lässt er sich nicht nehmen, muss ihn besonders perfide erzählen. Ein wenig erinnert er dabei an die Coens, die in „A Serious Man“ mit biestiger Freude und ohne Gnade einen Protagonisten vorführten, dem sein Leben völlig entgleitet. Erfolg und Glück sind nicht unbedingt gerecht verteilt, wie schon Boris Gruschenko in „Die letzte Nacht des Boris Gruschenko“ (1975) erfahren musste. Und vielleicht, so legt Allen nah, werden in diesem rein zufälligen Chaos ja auch nur die Verblendeten wirklich glücklich, die eben nicht alles hinterfragen müssen.
An dieser Stelle könnte eine protestierende Stimme sich erheben: Das sei nun aber doch wirklich nichts Neues, alles schon mal da gewesen und ein Beweis für fehlende Inspiration. Und ob ein rahmendes Shakespeare-Zitat auf die Bedeutungslosigkeit der Existenz hinweist oder ein kleiner Junge Angst vor einem expandierenden Universum hat, das mache doch wohl keinen großen Unterschied. Macht es aber. Denn wenn man ein Ramones-Album hört, ist man selten enttäuscht darüber, dass es keine Streichinstrumente gibt, selbst wenn es ein spätes Album ist. Und noch immer ist es unglaublich schade, dass die Ramones keine neuen Songs mehr veröffentlichen, auch wenn sie angeblich nie wieder so gut waren wie am Anfang. Was man übrigens jederzeit bestreiten könnte.