„Wollen Sie wissen, wie schwer Musik ist? Dann heben Sie doch mal ein Klavier hoch!“ Nein, solch schlechte Scherze macht Stefan Knüpfer, der Meisterstimmer und Cheftechniker der Pianofirma Steinway & Sons nicht, er klemmt stattdessen eine Violine als Ersatzbein unter den Flügel und alles wundert sich, dass die nicht kurzerhand einknickt. Knüpfer ist ein klein bisschen verrückt und deshalb auch der Held des Dokumentarfilms „Pianomania‘. „Piano“, weil es hier um Klaviere, Klavierstimmer und Klavierspieler geht, und „Mania‘, weil ja Wahnsinn und Genie bekanntlich dicht bei einander liegen und weil vereinzelte Symptome für beides bei dem begnadeten Handwerker sowie den von ihm betreuten Stars (ein freundlicher Alfred Brendel , ein lebhafter Lang Lang, ein klangsensibler Pierre-Laurent Aimard) nicht immer und nicht ganz von der Hand zu weisen sind.
Am „speziellsten“, wie Knüpfer es bezeichnet, fallen die Wünsche von Aimard aus: Für die Aufnahmen seiner Intonationen der Bach’schen „Kunst der Fuge“ wünscht er für jede einzelne Fuge einen anders präparierten Klang, einmal Klavichord, einmal Cembalo, einmal Orgel – aber alles auf dem gleichen Flügel! Knüpfer verbringt also die Spielpausen mit Klopfen, Schrauben, Zupfen, Oberton verstärken, Oberton dämpfen, die Hämmereinstellungen, die Dämpfer, verstellen, die Stimmung verändern, so lange, bis Aimard nicht mehr sagt: „Sehr schön. Aber eine Frage noch …“, ein Satz, dem mindestens 12 Überstunden folgen könnten. „Für mich ist das keine Qual, für mich ist das eine wissenschaftliche Erfahrung“ sagt Knüpfer, und sein Blick zuckt dabei ein klein wenig angespannt.
Ausschließlich von Abenteuern dieser Art berichtet „Pianomania“, von der Arbeit des wohl bestbezahlten Klavierstimmers des Planeten, von der Manie, den perfekten Klang zu finden, vom bedingungslosen Dienst am Künstler, also dem Dienst an der Kunst selbst. Von dieser Prämisse gehen alle gleichermaßen unhinterfragt aus: Musiker, technischer Ausstatter und Kamerateam. Im Film „Pianomania“ versammelt sich eine etablierte Elite der Hochkultur E-Musik und die etablierteste Company des Klavierbaus, um dezent ihre Wichtigkeit für den Kulturbetrieb zu demonstrieren, sprich: das Quäntchen High-Brow, das es braucht, um sich von dem Rest der Menschheit zu unterscheiden, muss bei so viel gesellschaftlicher Akzeptanz nicht höher sein als die fehlende Breite der falsch gelieferten Flügel-Hämmerchen, also etwa 0,3 bis 0,4 Millimeter.
Sicherlich muss man Respekt haben vor der Leistung dieser Musiker und auch besagter Aimard im Film glänzt durch seine virtuose Bachinterpretation – so wie auch Knüpfer durch sein überaus feines Gehör und seine Kunst der Feinabstimmung. Vom kleinsten Saitenzupfen bei der Stimmung bis zum Konzertmitschnitt, jeder Ton im Film wurde mittels eines aufwändigen Aufnahmeverfahrens in Dolby Surround-Qualität und auf bis zu 90 Tonspuren aufgezeichnet, und gerade hier verbirgt sich vielleicht, worin die besagte Pianomania auch besteht: Nicht nur in der Pflege der Kunst des Musizierens, sondern im Dienst des perfekten Klangs, als wäre Kunst zur Hälfte schon eine Frage der High Tech. Aber so viel gibt Stefan Knüpfer selbst zu: „Ein bisschen neurotisch bin ich auch. Wenn mir der Klang eines Klaviers im Radio oder auf CD nicht gefällt, dann muss ich abschalten.“
„Pianomania“ ist ein interessanter Film über die zeitgenössische Auffassung des ‚Klassischen‘ Klaviertraktaments, aber auch generell über die so genannte Ernste Musik, die als ein wichtiger Bestandteil bildungsbürgerlicher Kultur seit Jahrhunderten ein in ihren Bestandteilen und Ritualen, unberührt von jeglichen anderen, neueren Musiken, welche nicht das Prädikat „E“ besitzen, nahezu unverändertes Eigenleben führen kann. Die klassische Musikkultur hat sich viel weniger als alle anderen Kunstformen durch die Moderne beeinflussen lassen. Dadurch fehlen ihr, im Gegensatz zu etwa neuer künstlerischer Popmusik, Berührungspunkte mit der Gegenwart. Trotzdem gilt sie und gelten ihre Protagonisten immer noch weithin als die ultimativen Bewahrer und Pfleger dessen, was landläufig Musik genannt wird. Der Film „Pianomania“ wäre vielleicht nicht entstanden, wenn er diese Prämisse hinterfragen wollte, und dennoch zeigt er die merkwürdig isolierte Welt, die den Rahmen für die Entstehung dieser Kulturform bildet, und ihre „speziellen“ Bewohner. Auch die pittoresken, rhythmisch und stimmungsvoll der Musik unterlegten, stilistisch ein wenig an Musikmessenwerbung erinnernden Bilder von Wien belegen das Einvernehmen mit dem Gezeigten und zeugen von Dankbarkeit gegenüber den Partnern, u.a. dem Verband Deutscher Musikschulen, der Stadt Wien und der Firma Steinway & Sons.