Die Kamera blickt in eine Art Labor, drei Herren stehen im Vordergrund, einer hält einen Filmstreifen begutachtend gegen das Licht. Im Hintergrund eine Leinwand, Vorhänge werden zugezogen, der Raum wird abgedunkelt. Geschäftiges Treiben, Leute in weißen Kitteln eilen hin und her. Eine Filmprojektion steht bevor. Und eine junge Frau, Suzanne, soll aus einer tiefen Depression herausgeholt werden. Ein paar letzte Anweisungen, dann schauen alle gespannt auf eine weißgewandete Gestalt, die wie schlafwandelnd, von einer Helferin gestützt, den Raum betritt. Einer der Herren geht auf sie zu, blickt ihr prüfend in die Augen, geleitet sie behutsam zu einem Stuhl, wendet ihren Kopf der Leinwand zu. Der Raum ist nun völlig dunkel, die einzigen Lichtquellen sind die Projektorlampe, die weiße Fläche der Leinwand – und das Gesicht Suzannes, das das Licht reflektiert. Im Gegenschuss sehen wir, was sie auf der Leinwand sieht. Wir sehen, wie sie es sieht und auf das Gesehene reagiert.
In den frühen Jahren der Filmgeschichte scheint es oft wie Zauberei, wenn die Kinematografie ihr ureigenes technisches Instrumentarium aufdeckt, mit ihm selbstreferentiell spielt oder es selbstreflexiv zum Thema macht. Ein neues Medium schlägt die Augen auf, es erwacht zu seinen Möglichkeiten und stellt sie als Film im Film zur Schau – meist schrill-schräg-ironisch wie bei Max Linder oder Charlie Chaplin, die gern ihre Studios ins Chaos stürzen und mit den Tricks der Illusionsfabriken ihr eigenes Metier lustvoll dekonstruieren. Ganz anders „Le Mystère des roches de Kador“ (Das Geheimnis der Felsen von Kador) von Léonce Perret (Frankreich, 1912): Film im Film funktioniert hier als Maschinerie, die aufwendig ein Verbrechen re-konstruiert und seine Nachinszenierung nutzt, um den Täter zu überführen und das Opfer von seinem Trauma zu befreien. Suzanne soll das, was ihr und ihrem Geliebten angetan wurde, nach-erleben, um aus der Nacht der Trauer in den Tag, in die Wirklichkeit zurückkehren zu können.
Auf der Leinwand, der Filmleinwand im Film, rollt eine Mordgeschichte ab. Ein junger Mann, ein Strand, ein Boot, eine von düsteren Felsen gerahmte Bucht. Plötzlich bricht der Mann zusammen, rafft sich wieder auf, schleppt sich schwer verletzt weiter, findet den scheinbar leblosen Körper einer Frau, zieht ihn in das Boot. Wir sehen diese Bilder, wir sehen im Halbdunkel die Zuschauerin und, in einem Zwischenschnitt, ihr Gesicht, das Entsetzen in ihren Augen. Wir kennen die Bilder, weil wir zuvor das „reale“ Verbrechen gesehen haben und seine dokumentarische Rekonstruktion am Ort des Geschehens verfolgen konnten. Die Projektion des Materials, auf Veranlassung und unter Aufsicht eines Therapeuten, wird nun zu einem psychoanalytisch-kinematografischen Prozess. Trauma und Erinnerung, Film und Hypnose werden, im doppelten Sinne, zu einem flashback vereint, der auch uns, den Zuschauern, etwas vermittelt: Wir lernen, so der Kritiker Ekkehard Knörer, „was es heißt, Filme zu sehen. Wir erkennen wieder, was wir (nicht) erlebt haben.“
Am Ende der Szene ist der Raum schlagartig erhellt, Suzanne steht vor der weißen Leinwand, sie wankt, man fängt sie auf, großes Durcheinander, ihr Geliebter beugt sich über sie, sie betastet sein Gesicht, und ein Zwischentitel sagt uns: „Elle pleure, elle est sauvée.“ Suzanne weint – und sie ist gerettet. Ein psychotherapeutisches Experiment, „mediengestützt“, hat sie aus ihrer Depression erlöst und dem Leben zurückgegeben.
Viele Jahrzehnte später hat Jean-Luc Godard in seinen „Histoire(s) du cinéma“ (Fr 1989) Perrets Film ein Denkmal gesetzt.
Dieser Text ist zuerst erschienen in: ray Filmmagazin
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