Nacht und Mondlicht; in der Ferne ist, auf einem Hügel, eine Windmühle zu sehen. Zwei Berittene nähern sich und steigen, als sie die Mühle erreichen, vom Pferd. Sie betreten das halbmorsche Gehäuse, einer hebt eine Falltür und stellt im verliesartigen Keller einen Käfig mit Tauben ab. Schnitt. Ein Mann sitzt an einem Schreibtisch und liest ein Telegramm: „Achten Sie auf das X bei Mitternacht!“ Er geht zum Fenster und betrachtet durch ein Fernglas die Windmühle. Er sieht die beiden Männer, die die Mühle inzwischen verlassen haben; einer von ihnen hebt winkend seinen Arm. Der Mann greift nach der Schreibtischlampe und sendet durch das Fenster zwei Lichtsignale. Dann lässt er sich von seinem Diener in den Mantel helfen und verlässt den Raum.
Der Mann heißt Spinelli und ist ein feindlicher Spion (im Stummfilm liebte man es, ähnlich wie in pädagogischen Romanen, die Figuren mit sprechenden Eigennamen zu kennzeichnen). Die beiden Berittenen sind bezahlte Schurken, die Spinelli helfen, eine politische Intrige gegen den Helden des Films, einen hohen Marineoffizier, einzufädeln. Die Tauben im Käfig sind Brieftauben, und das „X“ im Telegramm ist ein kryptografisches Zeichen für die Windmühle. Aber all das wissen wir noch nicht, erst die verschlungene Handlung wird uns diese Details allmählich enthüllen, und wir brauchen sie auch noch gar nicht zu wissen, weil wir in dieser dreiminütigen Szene mit Schauen und nichts als Schauen beschäftigt sind.
Das Jahr vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs ist ein heiliges Jahr der Kinematografie. Der Film ist, als Technik, knapp zwanzig Jahre alt, Pathé und Gaumont machen seit einem Jahrzehnt mit ihm weltweit ein enormes Geschäft, die New Yorker Studiobosse ziehen nach Kalifornien um, Griffith arbeitet seit 1908 in seinen über 500 One-reelers emsig am Geheimnis der Montage. 1913 erfinden ein paar Besessene in Europa den „abendfüllenden“ Autorenfilm. Einer von ihnen kommt aus Dänemark, er heißt Benjamin Christensen, und sein „Det hemmelighedsfulde X“ („Das geheimnisvolle X“, 1913/14) ist, wie alle feature films dieser Zeit, eine abenteuerliche, etwas wirr erzählte Geschichte, in seinen besten Momenten aber pure visuelle Zauberei.
Ein Film, der die Gegenlichtaufnahme regelrecht inthronisiert. Die Totale mit der Windmühle und den beiden Reitern im Mondlicht sieht aus wie in einem Scherenschnittfilm von Lotte Reiniger. Die nächste Einstellung ist zuerst komplett schwarz. Die Kamera, im Innern der Mühle postiert, hält fest, wie sich die Tür öffnet und von draußen das Mondlicht, streng gerahmt, ins Bildfeld springt. Die Tür schließt sich, zwei menschliche Schemen agieren im tanzenden, torkelnden Strahl ihrer Taschenlampe. Eine Schiebermütze rutscht in den Lichtkegel, darunter ein Schnauzbart und, zwischen Zähne geklemmt, eine qualmende Shagpfeife. Der Lichtstrahl springt auf die sich öffnende Falltür, erfasst den Taubenkäfig und zeigt, wie das Gesicht, zu dem die Mütze, der Schnauzbart und die Pfeife gehören, in einer Luke verschwindet, aus der sich grauer Tabakrauch kräuselt. Am Ende ist nur zu erraten, wie die beiden Männer, eingepackt in Finsternis, sich zur Tür bewegen, sie öffnen und im Mondlicht verschwinden, aus dem sie aufgetaucht sind. In der folgenden Szene zeichnet sich Spinellis Schatten vor einer beleuchteten Glasmalerei ab, die Schreibtischlampe erhellt kurz sein Gesicht, den Text des Telegramms, die Hände, die nach dem Fernglas greifen. Dann der dramaturgische Höhepunkt: das Aufblitzen der Lampe, das Signal für die Komplicen. Hell und Dunkel sind hier keine „Effekte“, sie dämonisieren nicht, wie im deutschen Expressionismus, das Geschehen, sie konstituieren es vielmehr, formen eine Erzählung für unsere Augen, die sich an spärlichen Streifen und Flecken aus Licht durch eine dunkle Verschwörung tasten.
Dieser Text ist zuerst erschienen in: ray Filmmagazin
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