1975, Allegheny County in Pennsylvania, eine Stahlarbeitersiedlung, die Menschen sind erschöpft, ganz Amerika ist erschöpft vom Krieg. Linda (Meryl Streep), Michael (noch in Uniform: Robert De Niro) und ein paar Freunde kommen, am Ende des Films, von einem Begräbnis zurück, vorsichtig heben sie Steven (John Savage) in seinem Rollstuhl in Lindas Wohnwagen, wortlos. Der Raum ist dunkel und eng, man drängt und zwängt sich verlegen zwischen die wenigen Möbel, einer sagt, stellt doch mal zwei Tische zusammen. Der Kaffee kommt gleich, sagt ein anderer, Stühle werden sortiert, stumm setzt man sich an den Tisch. John (George Dzundza) bringt die Kaffeekannen, stellt sie ab, ratlos blicken die anderen auf die Kannen – ach, sagt John, Tassen brauchen wir auch. Alle regen sich jetzt irgendwie, wollen helfen, wollen mit Geschirrklappern die Stille verdrängen, am Ende sind zu viele Tassen auf dem Tisch, auch Schnaps ist da, will jemand vielleicht Bier? Sollte es nicht Rührei geben? Ja, Rührei, sagt Linda, sie will helfen, aber John verschwindet allein in die winzige Küche.
1975 war der Vietnamkrieg zu Ende; zwei, drei Jahre danach drehte Michael Cimino seinen Film „The Deer Hunter“ (USA 1978). Er erhielt fünf Oscars, Miloš Forman adelte ihn zu einem der besten Filme aller Zeiten, andere nannten ihn rassistisch, die Gewaltszenen (US-Soldaten werden vom Vietcong gefoltert) spekulativ. Viele Linke in Europa taten ihn als konterrevolutionär ab, sie vermissten den heldenhaften Kampf und Triumph des vietnamesischen Volkes, von amerikanischem Nationalkitsch war die Rede. Aber „The Deer Hunter“ ist kein Kriegsfilm, er beschreibt die Zersplitterungen und Verstümmelungen, die der Krieg dem „inneren Amerika“, nicht nur den Körpern, auch den Seelen der Menschen und ihren Beziehungen zugefügt hat. Linda, Michael, John und die anderen haben ihren Freund, Lindas Verlobten Nick (Christopher Walken) begraben. Er war, zutiefst verstört, nach dem Krieg nicht zurückgekehrt, hatte sich in Saigon dem Heroin und einem mafios betriebenen Russisch-Roulette verschrieben, es ging um Wetten, um Leben oder Tod und um Geld. Als ihn Michael in die Heimat holen wollte, jagte er sich eine Kugel in den Kopf.
Nun steht der dicke John in der Küche, Rührei also, auch nach Bier wurde gefragt – aber wozu das alles, das Schweigen der anderen liegt wie ein schweres Gewicht auf seinem eigenen Kummer, lastet auf seinen Bewegungen, würgt als Kloß in seinem Hals. Im Wohnraum wandert die Kamera über die Gesichter. Wenn sich die Blicke kreuzen, weichen sie einander aus, als fürchteten sie, sich selbst zu begegnen. Es wird überhaupt nicht richtig hell heute, sagt Angela (Rutanya Alda) plötzlich, und nun gucken alle sie an. In der Küche bearbeitet John das halbfertige Rührei in der Pfanne, er weint.
Und dann geschieht etwas. Ist das nicht ein Summen? Ja, jemand summt etwas, eine Männerstimme, vielleicht ist es John, ein anderer summt mit. Kaum hörbar zunächst, dann stärker werdend schält sich eine Melodie heraus, dann einzelne Worte, die Kamera blickt auf Linda, sie singt jetzt ganz deutlich: „God bless America …“, und die anderen singen erst zögernd, dann kräftiger mit: „… my home, sweet home“. John ist jetzt wieder bei den anderen, auch er singt mit. Ein Lächeln fliegt über die Gesichter, das so aussieht, als staune es über sich selbst. Im Wohnwagen ist es heller geworden. Dann ist das Lied zu Ende, vibriert noch Sekunden weiter, die Menschen schauen sich an, Michael hebt sein Glas: Auf Nick!
Dieser Text ist zuerst erschienen in: ray Filmmagazin
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