Ein breiter Lichtstreifen springt ins Dunkel, auf seiner grell weißen Fläche zeichnet sich ein Schatten ab. Steil von oben zeigt die Kamera den Menschen, dem er gehört. Er geht durch eine Halle, balanciert dabei ein Glas auf einem Tablett. Englisches Landhaus, englische Schauerromantik plus deutscher Expressionismus – Fensterstreben und Balustraden werfen Gitternetze auf die Wände. Eine Treppe führt in elegantem Bogen auf den Kamerastandpunkt zu. Stufe um Stufe nähert sich der Mann mit dem Tablett, sein Schatten wandert mit. Sein Gesicht bleibt unkenntlich. Das Glas enthält, bis an den Rand, eine sehr weiße, seltsam leuchtende Flüssigkeit. Hitchcock, das wird er später Truffaut verraten, hat eine Lampe ins Glas stecken lassen. „Weil es wirklich strahlend erscheinen musste. Cary Grant geht die Treppe hinauf, und man muss wirklich nur auf das Glas schauen.“
Das funktioniert. Der Mann, den Cary Grant spielt, erreicht die oberste Stufe. Knisternder Thrill, die Düsternis des film noir, eine Kette zwingender Verdachtsmomente und die siedende Erwartung, nein, die Gewissheit: Hier ist ein Mörder unterwegs. Alles an ihm und um ihn herum bleibt dunkel, ganz weiß aber und am Ende ganz groß im Bild: das Glas. Schnitt. In ihrem Schlafzimmer liegt Joan Fontaine im Bett, starrt auf die Tür. Marternde Frage: Naht irgendeine Rettung, kann sie dem Anschlag auf ihr Leben noch entgehen? Die Tür öffnet sich, der Raum ist hell, der Mann, den Cary Grant spielt, tritt ein. Sein Anzug ist so schwarz wie seine Gedanken; die Milch im Glas so weiß wie Joan Fontaines Negligé.
Ginge es nach der Romanvorlage, „Before the Fact“ von Francis Iles, wüsste sie, dass die Milch vergiftet und ihr Ehemann ein Mörder ist. Aus Verzweiflung darüber, aber auch aus lauter Liebe zu ihm würde sie sich umbringen lassen. In Alfred Hitchcocks „Suspicion“ (1941) nimmt die Sache einen anderen Verlauf. Cary Grant nähert sich sehr langsam und stocksteif seiner Frau, stellt das Glas behutsam auf den Nachttisch, setzt sich auf den Bettrand, gibt seiner Frau einen Kuss und sagt: „Gute Nacht, mein Schatz.“ Er steht auf und geht stocksteif aus dem Raum. Joan Fontaine blickt ihm wie versteinert nach. Schnitt: Es ist heller Morgen, die Kamera zeigt groß das unberührte Glas.
Jetzt muss nur noch eine Szene her, die plausibel erklärt, dass Cary Grant in diesem Film zwar ein von seiner Wettleidenschaft geplagter, reichlich verlogener, im übrigen jedoch liebenswerter Dandy namens Johnny ist – ein netter Hochstapler, der ob seiner bedenklichen finanziellen Lage eher sich selbst vergiften würde als seine Frau. Hitchcock hat diese Lösung, wie er Truffaut gesteht, nie gemocht. Nach seinen Vorstellungen sollte Johnny wirklich seine Frau umbringen. Verhindert hat das die Produktionsfirma RKO: Das Starsystem Hollywoods, vermutlich auch der Hays Code mit seinen rigiden Zensurbestimmungen hätten es nicht zugelassen, aus Grant einen Mörder zu machen.
Damit hatte sich Hitch ein schier unlöbares Problem eingehandelt. Sein Film sieht so aus, als hätte er ihn chronologisch gedreht, dabei Zug um Zug ein immer dichteres Netz eindeutiger Indizien und Hinweise um seine Hauptfigur zusammengeschnürt, den Handlungsbogen zuletzt auf eine nervenstrapazierende Klimax getrieben – und kurz vor dem letzten Dreh, nein, vor der letzten Klappe hätte ihm RKO mitgeteilt, Cary Grant dürfe alles, nur unter gar keinen Umständen ein Mörder sein.
Dieser Text ist zuerst erschienen in: ray Filmmagazin
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