Im Kindesalter schürfte mir diese Szene einen nachhaltigen Schock ein: Ein als Bergretter auftretender Sylvester Stallone baumelt da an einem Drahtseil zwischen den Felsen einer berauschenden Landschaft in schwindelerregender Höhe. Nur noch an seiner Hand hängt die Freundin seines besten Freundes, die aufgrund eines hanebüchenen Materialfehlers droht, in die Tiefe zu stürzen. Der Titel des Films lautet bezeichnenderweise „Cliffhanger“ und trägt in der deutschen Lokalisierung den Untertitel „Nur die Starken überleben“ – die Freundin des besten Freundes gehört zweifelsohne nicht in diese Riege, sie schlüpft Mr. Stallone wortwörtlich durch die Finger, was Regisseur Renny Harlin in verzerrten Gesichtern und einem Sturz in Slow Motion festhält.
Derartige Szenen kennt der geübte Kinogänger aus zahlreichen Actionfilmen der vergangenen Jahrzehnte: Ob Conan, der (neuere) Barbar oder Indiana Jones, überall hängt ein Held, eine „damsel in distress“, oder deren Antagonist von Klippen, Hochhäusern, Brücken. Es handelt sich um eine der beliebtesten Methoden, einen Filmhelden zu traumatisieren. Gegen Ende des Films hat das traumatische Erlebnis dann in einer ähnlichen Form wiederzukehren, wird in der Regel jedoch anders (besser) aufgelöst. Natürlich können solche Szenen auch einmalig und unwiederholt in einem Film auftreten – auch dann nimmt das Erlebnis meist konkreten Bezug zu einer der Handlung zugrundeliegenden Problematik. So werden im Showdown von „Die Hard“ an einem Hochhausfenster mehrere der in den Figurenkonstellationen schlummernde Konflikte aufgelöst (man beachte, woran sich Alan Rickman da festkrallt!).
Insofern die Teilnehmer und die Faktoren solcher Sequenzen changieren, ist es schwer, sie auf einen bestimmten Aspekt zu reduzieren. Einmal sind es Klippen, die die Kulissen bilden, das andere Mal eine Brücke oder auch ein Hubschrauber, in dem gefochten wird. Anders als etwa im Duell eines Westerns können sich in dieser Form der Konfrontation – die ich schlicht „Cliffhanger“ nennen möchte – auch Freunde begegnen; und ebenso anders als im Westernduell mischt sich eine weitere Partei ein, eine äußere Notwendigkeit, die den Teilnehmern das Leben schwer macht (namentlich: die Schwerkraft). Nehmen weitere Akteure teil, sind verschiedenste Allianzen möglich.
Innerhalb dieses Feldes von Familienähnlichkeiten, die sich nicht in einem Punkt zusammenfassen lassen, möchte ich eine zentrale These einschreiben, welche auf den folgenden Seiten erprobt werden wird: Vor einer nicht zu bändigenden, gefährlichen Natur, die in das Walten des Menschen eindringt, drücken sich in einem Cliffhanger jene agonalen Kräfte aus, die der Filmhandlung ihre Spannung verleihen. Ein Cliffhanger lässt sich als Erzählung in der Erzählung, als ein Mini-Drama lesen, das zentrale Konflikte des größeren Ganzen repräsentiert. Unterschiedlichste Konstellationen sind prinzipiell möglich, wenngleich sich bestimmte Klischees abzeichnen (mit der „damsel in distress“ wurde auf einen solchen bereits hingewiesen). Der Korpus, den ich hierfür zusammengestellt habe, besteht fast ausschließlich aus Hollywoodproduktionen. Vor allem die Bergfilme der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts würden Potential für derartige Betrachtungen bieten, insofern sie auch einige Gewohnheiten des Nachkriegs-Hollywoods verfremdeten; doch bedürfte selbst das Herausnehmen einiger weniger Beispiele einer ausführlichen Analyse der zuweilen prekären ideologischen Rahmenbedingungen, die in diesem Text nicht geleistet werden könnte. Deshalb sei diese Filmepoche vorerst ausgeklammert, auch wenn dadurch eine Art Loch in der Betrachtung zurückbleiben mag. Entsprechend versteht sich auch die folgende Darstellung weniger als umfassende historische Auffächerung, sondern vielmehr als schlichter Fingerzeig auf ein Phänomen, das der Aufmerksamkeit verdient.
Eigentlich bezeichnet der Begriff „Cliffhanger“ nicht zwei innerhalb eines Films wiederkehrende Situationen, zwischen denen sich dessen Handlung aufspannt, sondern vielmehr den offen gelassenen Ausgang eines Films, der die Spannung bis zu dessen Fortsetzung streckt. (Man könnte natürlich argumentieren, dass auch Sylvester Stallones anfänglicher Kampf offen bleibt: Denn indem er durch sein Versagen traumatisiert wird, ist die Angelegenheit noch nicht beendet, und muss zwangsweise wiederkehren. Diese Spannung hätte den Film zu tragen.) Thomas Hardy lieferte mit seinem Fortsetzungsroman „A Pair of Blue Eyes“ im Jahr 1873 die Form dieses Kunstgriffs: Zunächst lässt Hardy seine Figur Henry Knight am letzten Büschel Gras von einer Klippe hinabhängen, und dann verschiebt er die Auflösung der misslichen Lage über das Kapitelende hinaus, was zum Zeitpunkt der Erstpublikation ein Monat Wartezeit für den Leser bedeutete. Das Paradigma, das Hardy geschaffen hat, ist allerdings umfassender: Schon in „A Pair of Blue Eyes“ finden wir den Cliffhanger als eine wiederholte Situation vor. Einige Kapitel zuvor beobachtet der reifere Henry Knight mit seinem kühlen Wissenschaftler-Blick die angebetete Elfride, wie sie am Geländer des Turms der West Endelstow Church balanciert. Sein Beschützerinstinkt lässt ihn gar wütend werden ob der Eigenermächtigung des jungen Mädchens, das da ohne Erlaubnis von Erzieher oder von Vernunft so leichtfertig handelt: „His face flushed with mingled concern and anger at her rashness.“ Aufgebracht mischt er sich in ihr Tun ein, worauf sie über ein aus einer Fuge wachsendes Büschel Gras stolpert und sich gerade noch auf die richtige Seite rettet, an der Henry Knight sogleich zur Stelle ist, um sie zu belehren. Intuitiv weiß sie wenige Minuten später: „Well, I felt on the tower that something similar to that scene is again to be common to us both.“ Mit wissenschaftlicher Kühle hält sich Knight ihre Zukunftsvision vom Leib; seine Perspektive bleibt darüber hinaus zu eindimensional, als dass er sich eine andere Besetzung vorstellen könnte – er selbst kann sich nur in der dominanten, befehlsgebenden Position eines Sylvester Stallone denken: „That such a thing has not been before, we know. That it shall not be again, you vow [Hervorhebung L.S.]. Therefore think no more of such a foolish fancy.“
Doch es kommt anders, als er Elfride zufällig am Bristol Channel wiedertrifft. Gemeinsam spazieren die beiden auf einer „Cliff without a name“ bis zum oberen Rand einer Böschung, die am Ende der Klippe in den Abgrund mündet. Knight, der eben noch das Entstehen der Windströmungen an dieser exponierten Position beschrieben hat, stapft im nächsten Moment die Böschung hinunter, um seinen vom Wind verwehten Hut zu retten. Ein plötzlicher Regenguss macht es ihm sodann unmöglich, im entstandenen Schlamm wieder hinan zu kommen; nachdem noch ein Stein wegbricht, endet Knight als Cliffhanger an einem Grasbüschel, über das Elfride am Kirchenturm noch gestolpert war.
Auch diese Art des Cliffhangers – als einen Balanceakt in schwindelerregender Höhe – hat Hardy nicht erfunden. Es wird gemutmaßt, dass er sie sich von einem kurzen Text von Leslie Stephen abgeschaut hat, „A Bad Five Minutes in the Alps“, der ausschließlich von einem Bergwanderer handelt, der abrutscht und sich am Fels über dem Abgrund festkrallt. (vgl. Halperlin 1980) Einem Jahrhundert, das sich durch alpinistische Bemühungen ausgezeichnet hat, wird der Topos des drohenden Absturzes allerdings auch schon zuvor geläufig gewesen sein – sozusagen als düstere Kehrseite des stilisierten Wanderers über dem Nebelmeer. (vgl. Scharfe 2007) Das, was Hardys Darstellung bemerkenswert macht, ist, wie sie alpine Ängste mit weiteren Konflikten verwebt, Konflikte, welche anders als die alpinistischen nicht der Gesellschaft entkommen wollen, sondern im Gegenteil in deren Innerstes zurückweisen.
Nachdem Elfride, im Versprechen, für Hilfe zu sorgen, hinter der Böschung verschwunden ist, sieht sich Knight einem Relikt einer vergangener Epoche gegenüber: Er blickt auf einen fossilen Trilobiten, der sich im Überlebenskampf offenbar als nicht „fit“ genug erwiesen hat. Ein Schicksal, das nun auch Knight droht. Seine gefährliche Lage kränkt das Selbstverständnis des aufgeklärten Menschen; aus seiner wissenschaftlichen Distanz wurde er zurück in den Überlebenskampf gerissen, den viele andere vor ihm verloren haben. Der baufällige Kirchturm tritt in Analogie zum lebensuntüchtigen Gliederfüßer – der eine wie der andere endet als Relikt einer vergangenen Zeit. (vgl. Radford 2003, 50ff)
Ironischerweise fühlt sich Knight kraft seines Intellekts noch immer dem Trilobiten überlegen, und er vollbringt das Kunststück, auch in der großen Gefahr sich mit wissenschaftlicher Strenge vom unmittelbaren Geschehen zu distanzieren, wenn er den Gliederfüßer aus dem Jetzt ins Erdaltertum befördert und mit kühlem Verstand dessen Lebensumstände imaginiert. Seinen trotz körperlich fehlender „Fitness“ funktionierenden Verstand stellt er erneut unter Beweis, als Elfride mit einem Haufen von Leinenfetzen in den Händen zurückkehrt: Er beginnt, seine eigene Rettungsaktion selbst anzuleiten. Sie solle die Fetzen zusammenzubinden und jeden der Knoten einzeln testen, damit er auf einem improvisierten Seil aus seiner misslichen Lage entkommen könne – was zuletzt gelingt.
Zurück in Sicherheit stürzt Knight in eine erneute Krise: Erst jetzt kann er den so plötzlich seltsamen Wurf von Elfrides Kleidern deuten – unter der einen obersten Schicht ist sie nackt! Zum Seilbau hat sie sich ihrer Unterwäsche entledigt und rettete sein Leben, indem sie ihn an diese Wäsche ließ. Aus dem Cliffhanger fertigt Hardy nicht nur eine extreme, sondern vor allem eine intime Szene. Knight verbietet sich, die pikante Situation (Elfride läge ihm seiner Ansicht nach willig in den Armen) zu seinen Gunsten (aus-)zu nutzen. Zu seinen erotischen Möglichkeiten hält er dieselbe Distanz wie zu dem Trilobiten. Knight verwehrt sich seine Triebe; genau das rettete sein Leben; und genau das hält ihn von Elfride fern. Einer demütigenden Situation begegnet er mit Distanz.
Stellt man die Szene auf dem Kirchturm der späteren auf der namenlosen Klippe gegenüber, so zeigt sich: Beide Male nehmen die prekären Situationen vor gleichgeschalteter Kulisse einen glimpflichen Ausgang, während Knight und Elfride ihre Rollen vertauschen; in der Rhetorik würde man von einem Chiasmus sprechen. Keiner der Beteiligten trägt ein Trauma davon; vielmehr wird das Erlebnis zu einer weiteren, verdichtenden Episode in ihrer Beziehung zueinander, die selbst wiederum durchaus traumatischer Natur sein kann – die Anglistin Joanna Devereux zeigt etwa in ihrer Dissertation, wie Elfride als Objekt der Begierde erst von den männlichen Blicken Knights konstruiert wird. (vgl. Devereux 2003, 1-19) Diesen Blicken ist sie gerade in den Extremsituationen ausgesetzt.
Auch in Renny Harlins „Cliffhanger“ geht es in der Anfangsszene nicht nur um „distress in the mountains“, sondern um mehr: Um eine „damsel in distress in the mountains“, die zwischen zwei Männern über dem Abgrund hängt. Wie ist es dazu gekommen? Der erfahrene Kletterer und Bergretter Hal schleppt seine unerfahrene Freundin Sarah zu einer allem Anschein nach anspruchsvollen Bergtour, mit dem Versprechen, dass diese „besser als Sex“ sei. Irgendwie schafft es Hal, sich noch am Gipfel sein „aus Vietnam“ lädiertes Knie erneut zu lädieren, worauf die Bergrettung ausrücken muss und was einem sich als Sylvester Stallone ausgebenden Ausnahmekletterer Anlass gibt, eindrucksvoll, überhängend und völlig ungesichert zu seinem Filmfreund emporzusteigen. Dem Zuschauer vermittelt das: Der Kerl gehört definitiv zu jenen Starken, die im deutschen Untertitel so wirksam beschworen werden. In einem sich am Gipfel entspinnenden Wortwechsel entlarvt Sylvester Stallones Figur Gabe die Vietnam-Verletzung seines Freundes als einen Badezimmer-Ausrutscher, kurz bevor er beginnt, mit dessen Freundin zu kokettieren.
Egofight im Bergmassiv – Szene aus „Cliffhanger“ (Foto: © Studiocanal)
Hal wollte mit der Tour seine Freundin beeindrucken, was damit endet, dass er von seinem ohnehin fähigeren Freund gerettet werden muss, der nun obendrein mit jener Freundin flirtet. Als Sarah schließlich in Not gerät, ist es gerade Gabe, der den Ton angibt und die Rettungsaktion leitet. Dass Gabes Plan doch einmal schiefgeht, versetzt seinen Freund Hal endlich in die Lage, Kritik an dem schillernden Freund üben zu dürfen („Du hast es auf deine Weise gemacht und jetzt ist sie tot!“, heißt es später). In der Einstiegssequenz wird nicht der Tod einer Frau verhandelt, sondern der Konflikt zweier Männer-Egos. Die Grundspannung von Sylvester Stallones Figur ist dann auch die etwas narzisstische Auseinandersetzung mit seiner eigenen Potenz (bin ich fähig? kann ich das? kann ich helfen?), die er allerdings schon bald wieder unter Beweis stellen wird, sodass letztlich der tatsächlich eintretenden Wiederkehr des anfänglichen Traumas kaum noch Bedeutung zukommt. Eine andere Frau wird dann die Lücke der Verunglückten schließen, während Stallone erneut in die Situation gerät, diese Frau an seinem Arm hochziehen zu müssen.
Der Bergretter Gabe bleibt über der schwindelerregenden Tiefe handlungsfähig; und auch Henry Knight schaut nicht seinem eigenen Tod ins Auge, sondern dem des Trilobiten im Erdaltertum. Der Schwindel – bzw. die Freiheit davon – als genuin alpinistischer Topos wird im Cliffhanger zur Bedingung der Möglichkeit allen Handelns. Was wundert es da, dass Hitchcocks „Vertigo“ mit einem Cliffhanger anhebt (wenn auch in urbaner Kulisse)? Bei einer Verfolgungsjagd bleibt der Polizist Scottie Ferguson an einer Regenrinne auf den Dächern San Franciscos hängen; der bemerkenswerte Ausgang lässt nicht den Hängenden, sondern den Retter scheitern: Aufgrund seiner Hilfsbereitschaft stürzt dieser in den Tod. Scottie wird indessen hängengelassen, ohne dass sich die Unterwäsche einer Elfride ergreifen ließe (und auch an dem Büstenhalter, den er in der Folgeszene zu Gesicht bekommt, kann er sich nicht mehr aus seinem Trauma herausziehen). Scottie beschäftigt die eigene Potenz, die sich im Helfen, Sorgen, Beschützen, aber auch im Gestalten einer begehrten Frau erprobt. Laura Mulvey macht in ihrem klassischen Essay „Visual Pleasure and Narrative Cinema“ den Blick als einen wesentlichen Agenten dieses Begehrens aus: „Vertigo focuses on the implications of the active/looking, passive/looked-at split in terms of sexual difference and the power of the male symbolic encapsulated in the hero.“ (Mulvey 2009, 25) Im Cliffhanger, wo das Verhältnis eines aktiven Helfers zu einem/einer passiven Hilfsbedürftigen aufs Engste verdichtet wird, zeigt sich dieses männliche Blicken als instabil. Kurz nach seinem ersten Schwindelanfall sieht der hilfsbedürftige Scottie seinen helfenden Kollegen in den Tod stürzen. Später kann Scottie seine Position noch einmal wechseln, wenn er Judy vor dem Ertrinken rettet. Nebst der Golden Gate Bridge springt er ihr ins Wasser hinterher (ein ähnlich intimer Moment wie am Bristol Channel, allerdings ohne die entsprechenden Höhenmeter) und bemerkt: Er ist noch zur Hilfe fähig, er kann für sie da sein, wie er es später immer wieder betonen wird. Vor den Folgen seiner Nähe kann er sie nicht mehr bewahren, weil ihn in der Position des Helfers die Höhenangst ergreift: Man mag sich fragen, ob nicht ebenso das Bewusstsein des am Anfang in den Tod fallenden Helfers zu seiner Angst und seiner Hemmung beiträgt – ein Bewusstsein dessen, dass es auch gefährlich sein kann, als aktiver Part zu helfen und zu gestalten. Was Elfride auf dem Kirchturm noch erspart blieb, stößt Judy zu.
Henry Knight wird gar nicht traumatisiert; stattdessen eröffnet ihm der Cliffhanger erotische Möglichkeiten (die er sich verwehrt). Sylvester Stallone/Gabe, der Bergretter, kann sein Trauma in einer Wiederkehr abändern und seine Hemmungen so überwinden. Scottie kann die Begegnung mit der Höhe niemals zu seinen Gunsten wenden: Das, was er begehrt, bekommt er nie zu fassen.
Abhängen – Szene aus „Safety Last!“ (Foto: © Universal)
Als Hommage an zahlreiche stumme Abenteuerfilme zeigt ein Film im Film in „The Artist“ einen im Treibsand versinkenden Helden, der von seiner verzweifelten Geliebten nicht mehr gerettet werden kann. Mit den letzten Worten gesteht der Held, sie nie geliebt zu haben. Dass der Held stirbt, wäre noch zu verkraften; aber dass er dabei noch das Beziehungsgeflecht, in das ihn die ganze Handlung verwickelt hat, einfach zertrennt und seine Liebe als nichtig erklärt (während Judy in „Vertigo“ zumindest sich noch aus Schuld in den Tod stürzt), kann einem – wenn auch fiktiven – Publikum, das nach tiefen Emotionen giert, nicht bekommen. Nur die Natur behält hier ihre tödliche Härte. Dagegen macht Harold Lloyd das Publikum glücklich. Sein Gipfelsturm in „Safety Last!“ soll alle Probleme des durchschnittlichen Städters bewältigen. Mit seiner waghalsigen Erstbesteigung arbeitet er sich in die Mitte der Gesellschaft. Lloyd erklimmt die Fassade eines Wolkenkratzers, auf dessen Dach er von seiner Freundin nicht nur erwartet, sondern regelrecht aufgefangen wird. Auf die berühmte Einstellung, in der Lloyd an dem Zeiger einer Turmuhr über dem Abgrund baumelt, folgt Lloyds verzweifeltes Schnappen nach einem Seil, das sein vor der Polizei fliehender Freund herabgelassen hat. Für Lloyds Not halten die beiden Parteien – Verbrecher und Gesetzesvertreter – in ihrer Verfolgungsjagd dann auch kurz inne, um das Seil zu halten; die Gesellschaft, egal wie zerstritten, steht für die Notleidenden gerade, aber nur bis zu dem Punkt, an dem sie nicht mehr notleiden. Den Aufstieg hat man gefälligst selbst zu bewerkstelligen.
In der Batman-Trilogie von Christopher Nolan birgt ein jeweiliger Cliffhanger die Grundbewegung jeden einzelnen Films. In „Batman Begins“ hilft der Vater dem jungen Bruce Wayne aus einer Höhle, in die er gestürzt ist; bei einem Überfall kann Bruce Wayne aber nicht seinem Vater helfen. Stattdessen rettet Bruce später eine andere Vaterfigur, seinen Mentor, als dessen regloser Körper von einer Explosion auf eine abschüssige Eisplatte geschleudert wird, die über einem Abgrund endet. Wayne zögert nicht, ihm nachzurutschen, ihn zu ergreifen und im letzten Moment die Zacken seiner Armschienen ins Eis zu rammen; der eine Arm hängt am Eis, der andere hält den Lehrmeister. Mit einem sogar eines Sylvester Stallone würdigen Kraftaufwand hebt ihn Wayne zurück über die Kante. Unmittelbar davor hatte der Lehrmeister seinen Schüler an sein Kindheitstrauma (der Angst vor Fledermäusen) herangeführt und ihn bewogen, dem entgegenzutreten. Zugleich hat aber Wayne zu seinem Mentor unüberbrückbare Differenzen in wesentlichen Belangen festgestellt – er distanziert sich von den Regeln seines Lehrmeisters. Indem er diesen aber vor dem Tod bewahrt, bewahrt er auch dessen Regeln sowie seinen eigenen Konflikt mit diesen Regeln (anders als Elfride, die in der Notsituation Knights Anweisungen gehorcht und auch weiterhin von ihm geformt wird). Seine Selbstwerdung kann erst beendet sein, wenn er sich seinem Lehrmeister ein weiteres Mal gestellt hat – auf diese Weise vollführt der Film den Spagat zwischen dem Erzählen von Batmans Ursprung und der Notwendigkeit eines Bösewichts.
Im Nachfolger „The Dark Knight“ hat der Joker Batman überwältigt; auf ihm liegend, beginnt er mit dem längst bekannten Spielchen: „You know how I got these scars?“ Batman aber lässt nicht mit sich spielen: „No. But I know how you’ve got these“, womit er die Zacken seiner Armschienen ankündigt, an denen im Vorgänger noch das Leben seines Mentors hing. Nun fliegen sie dem Joker ins Gesicht und dieser im nächsten Moment aus dem hohen Stockwerk. Dämonisch lachend fällt er in die Tiefe, bevor er aufgefangen, zurück in die Höhe gezogen und kopfunter hängen gelassen wird. Im sich nun entfaltenden Dialog stehen/hängen sich Batman und der Joker wie zwei diametrale metaphysische Prinzipien gegenüber.
In der chaotischen Dramaturgie des letzten Teils „The Dark Knight Rises“ findet sich ebenso ein Cliffhanger, der diesmal ohne Widerpart auskommt: Bruce Wayne braucht kein Seil, keine Elfride und keine Unterwäsche, er erkämpft sich unter maximalem Risiko selbst den Weg zurück in die Höhe, aus der er hinabgeworfen wurde.
Thronfolge im Eilverfahren – Szene aus „König der Löwen“ (Foto: © Disney)
Nicht nur Freunde und Retter begegnen sich über dem Abgrund, sondern auch Todfeinde. Ausgerechnet die Disney-Studios haben dafür sehr treffende Bilder gefunden: In „The Lion King“ kommt eine Variante des Hamlet-Konflikts in Cliffhanger-Form zum Ausdruck, wenn Mufasa, der König der Löwen, aus einer Schlucht herausklettert, auf dessen Grund eine wildgewordene Antilopen-Herde rast, während sein machthungriger Bruder Scar oben wartet. Dieser krallt sich die königlichen Tatzen und lässt ihn mit einem gehauchten „long live the king“ wissen, dass er im Begriff ist, die Erbfolge an sich zu reißen, bevor er ihn in die Antilopen-Herde zurückwirft. Der rechtmäßige Thronfolger Simba sieht den Tod des Vaters; anders als Prinz Hamlet kennt er nicht den Tathergang, sondern fühlt sich aufgrund der Intrigen seines Onkels selbst für den Tod verantwortlich. So ist bei ihm auch keine Melancholie und kein erhöhter Drang ins Selbstgespräch feststellbar, sondern die Flucht in die Verdrängung. Wo Hamlet angesichts seiner Nachdenklichkeit zu keiner Tat fähig ist, ist es Simba lange aufgrund seiner vermeintlichen Schuld. Er unterwirft sich einem listigen Bösen in dem Moment, wo er sein schlechtes Gewissen akzeptiert. Als er sich zuletzt doch der Vergangenheit stellt, ist es diesmal er selbst, der unter Scar an der Klippe hängt; damit Simba die Wahrheit erkennt, bedarf es erneut der Worte Scars, die siegessicher den eigentlichen Königsmörder entlarven. Erst da kann Simba die Herrschaft seines Onkels brechen. Simba kann nur reagieren, nicht agieren.
Ähnlich wird das Liebesleben des jungen Prinzen reflektiert; Simba und seine Kindheitsfreundin Nala stürzen während einer Rauferei wenn nicht über Klippen, so doch über eine Böschung (die auch, wie wir von Hardy wissen, in die ungebändigte Natur führen kann). Am Ende dominiert Nala über Simba, sie liegt oben. In einer Wiederholung dieses Kampfes (auf ebenem Boden) erkennen sich die beiden als junge Erwachsene wieder; der ernsthafte Kampf kippt dabei ins Kindliche, sobald Nala ihn erneut für sich entschieden hat. Ein letztes Mal wird dieses Spiel wiederholt, diesmal kullern sie wieder eine Böschung ins Unbekannte hinab, nur lässt Nala sich jetzt überwältigen, wobei sie, rücklings liegend, Simba und mit ihm dem Zuschauer einen Blick zuwirft, so lasziv, wie man es in einem Disney-Film nicht für möglich gehalten hätte. Damit erschöpft sich die weibliche Handlungsmacht in „The Lion King“ in der binären Option von Sich-Verwehren und Sich-Hingeben.
Zwischen all diesen männlichen Allmachtsfantasien, männlichen Konflikten und männlichen Überlebenskämpfen hat Kathryn Bigelow die Hyperbel inszeniert: Die Leere, der Abgrund ist da überall, der rettende Fels auf einen Rucksack reduziert, und die heikle Balance zwischen Hängen und Stürzen, die sonst mit aller Kraft aufrechterhalten wird, bereits durch den kontinuierlichen Fall beider Parteien ausgetauscht.
Am Höhepunkt von „Point Break“ sehen wir einen Fallschirmsprung (an sich schon „Sex with the gods“, wie es zuvor im Film geheißen hat) ohne Fallschirm, wenn der Jungspund Johnny Utah seinem sportlich-spirituellen Mentor sowie Gegenspieler und Erpresser Bodhi aus dem Flugzeug hinterherspringt. Utah, als FBI Agent ein Vertreter des Gesetzes, hat durch Bodhi einen Way of Life gefunden, der mehr Erfüllung und mehr Freiheit als die staatliche Karriere verspricht. Dass dieser Way of Life auch dunkle Seiten umfasst, muss Utah im Rahmen seiner Ermittlungen entdecken.
Szene aus „Point Break“ (Foto: © Warner)
Bereits einen Fallschirmsprung zuvor – hier noch in freundschaftlicher Gesellschaft – wird erprobt, wer es wagt, später die Reißleine zu ziehen. Das Spiel endet in einer Art Remis, als sich Bodhi an Utahs Rucksack vergeht. Bei dessen Wiederholung meint man fast, Bodhi hätte Utahs waghalsigen Ausstieg absichtlich provoziert, so selbstverständlich begrüßt er seinen Freund in der Luft. In gewisser Hinsicht ist der Adrenalinjunkie Utah damit längst auf die Seite des Adrenalinjunkies Bodhi übergelaufen. Zwar geht es auch hier (wie in Harlins Cliffhanger) um das Leben einer Frau, die hier am Boden als Geisel wartet, doch verhandelt die Konfrontation vielmehr die Egos der beiden Männer (wie in Harlins Cliffhanger), die sich direkt gegenüberstehen (nicht wie in Harlins Cliffhanger). Diesmal wird Johnny an der Reißleine Bodhis ziehen – eine Kreuzstellung zum vorangegangenen Sprung; nur dass mit diesem Streich beide Leben gerettet werden.
Wird ein Cliffhanger tatsächlich zu dokumentieren versucht, zeigt sich zuallererst, wie elendig langsam und lange sich eine solche Szene gegenüber dem Imaginären Hollywoods hinziehen kann (nur bei Hardy dehnt sich die Szene in die Länge): „Touching the Void“ (2003) erzählt von der Seilschaft zwischen Simon Yates und Joe Simpson bei einer Besteigung des Siula Grande in den Anden. Beim Abstieg bricht sich Simpson ein Bein. Yates entschließt sich, den Verletzten über die steilen Schneefelder abzuseilen. Als das Gelände unerwartet immer steiler wird und ein tobender Sturm die Kommunikation zwischen den Seilpartnern verhindert, endet Simpson unterhalb eines Felsvorsprungs, unfähig sich hinaufzuziehen. Eine Stunde hält ihn der unwissende Yates bis zur Erschöpfung, bevor er das Seil mit einem Messer kappt. Die Ironie der Geschichte liegt darin, dass, obwohl sie, anders als die bekannten Stilisierungen, auf ein tatsächliches Geschehen verweist, zugleich auch die trostvollere Auflösung bietet: Der Sturz ins Leere kann, anders als bei „Cliffhanger“, anders als bei „Vertigo“, im Guten enden, der Natur kann auch in der Aussichtslosigkeit ein Sieg abgerungen werden. Wie in Vertigo beginnt mit dem Cliffhanger erst Simpsons Leidensweg; doch Simpson ist gefallen, nicht hängen geblieben, und kämpft sich gegen seine Ängste in dem unwegsamen Gelände, in das er gefallen ist, voran. Es liegt im Grunde eine ähnlich pathetische Bewegung wie in „The Dark Knight Rises“ vor: Der Mensch, der sich im Alleingang gegen die ungebändigte Natur behauptet.
Darstellungen einer derart drohenden Naturgewalt finden sich vor allem in Panoramen der Sintflut, wie sie in der Kunstgeschichte oft entworfen wurden (vgl. die Arbeiten von Michelangelo, Baldung, Jan Brueghel des Älteren, Wtewael, Poussin, und vielen anderen). Dort retten sich in zahlreich aneinandergereihten Szenen Menschen selbst sowie ihre Angehörigen vor den Fluten auf Felsen – oder auf die schutzverheißende Arche des „gerechten“ und „untadeligen“ Noachs (Gen 6,9); denn mit der Sintflut wollte Gott alle Menschen, die er erschaffen hatte und die in Sünde lebten, „vom Erdboden vertilgen“ (Gen 6,7). Später wurde die Arche allgemeiner als Kirchengemeinschaft gedeutet, die für ihre Angehörigen allein Schutz in einer gefährlichen Welt zu bieten vermag. Wer von dieser Gemeinschaft abfällt, findet sich im chaotischen Treiben der Vergänglichkeit wieder.
In vielen Szenen der Sintflutdarstellungen lassen sich Cliffhanger in nuce finden – Kinder werden auf Felsen hinaufgereicht, Männer klettern auf Bäume, vergeblich klammert man sich an die Arche. Ob sich dieser Kontext als Hintergrundrauschen bis in die filmischen Cliffhanger gehalten hat? Vielleicht ist es das, was James Stewart alias Scottie Ferguson Angst bereitet: Der Fall in die Fluten angesichts seines sündigen Begehrens. Die Form der Spirale, die Hitchcocks ganzen Film bestimmt, wird so zum Mahlstrom einer Sintflut, der mit Strafe droht. Dann würde die Logik, die Scotties Handeln lähmt, lauten: Wenn ich meinem Begehren nachgehe, droht mir die Strafe. Ganz ähnlich (aber mit anderen Folgen) nimmt sich Henry Knight zurück; diese Deutung würde dann auch seiner wissenschaftlichen Distanz eine mythische Herkunft zusprechen.
Eine der frappierendsten Sintflutdarstellungen stammt von Anne Louis Girodet-Trioson, die 1806 im Salon de Paris erstmals ausgestellt wurde. Sie zeigt einen Familienvater, der mit aller Kraft sich an einem sich im Bersten befindenden Ast festkrallt, während er den eigenen Vater, Frau und Kinder hält. Girodet-Trioson war es nicht um das biblische Motiv gegangen, er wollte seine Darstellung säkular verstanden wissen; fälschlicherweise wurde das Gemälde als „Scène du déluge“ ausgestellt, wo der eigentlich intendierte Titel des Malers „Scène de déluge“ gewesen war – „du“ würde eine bestimmte Sintflut bezeichnen, die Sintflut, während „de“ eine unbestimmte Sintflut bezeichnet.
Interpreten sehen in dem Gemälde Zeitbezüge, etwa eine Kritik an den Verhältnissen der napoleonischen Zeit: Der Fall in die Fluten als der drohende Rückfall in das Chaos der französischen Revolution. (vgl. Cleaver 1978, 96f) Dieser zeitgenössische symbolische Gehalt ist für die vorliegende Betrachtung weniger von Bedeutung als die unmittelbare Komposition des Bildes und dessen konkrete Referenzen auf eine Familie, die droht, auseinander zu reißen. Es ist eine Komposition, der im Spielfilm neue Symboliken aufgeprägt wurden: Girodet-Trioson fand eine imaginäre Form, für die Hardy Jahrzehnte später einen symbolischen Rahmen schaffen sollte.
Anders als frühere Sintflut-Panoramen wie etwa in der sixtinischen Kapelle zeigt Girodet Trioson ein Fragment, um nicht zu sagen: eine Nahaufnahme anstatt einer Totale. Es war dann dies auch einer von vielen Punkten, der zeitgenössische Kritiker verstörte. Man merkte weiters an, dass eine Skulptur dem Inhalt angemessener gewesen wäre (aber auch eine Skulptur scheitert noch an der Darstellung jener Bewegungsfolgen, die später das Kino darstellen konnte). Dann fragte man sich, ob so eine hoffnungslose Situation überhaupt dargestellt werden dürfe, denn man wollte von einem Kunstwerk bewegt, aber nicht von Kummer überwältigt werden (gemessen an dem Schockpotential heutiger Kunst für uns eine seltsam unzeitgemäße Forderung). Die Brutalität des Bildes selbst irritierte; dass der ältere Sohn sich an den Haaren der Mutter in die Höhe zog. Es verwirrte, dass manche Muskeln angespannt waren, andere wiederum entspannt; dass die Muskeln des Großvaters durchtrainiert waren, während seine Füße taub wirkten. Es benötigte eine Artistenfamilie, bemerkte man, um derartige Haltungen auszuhalten. Wie gelangte man überhaupt in eine solche Lage? Sei die ganze Komposition nicht einfach unglaubwürdig? (vgl. Cleaver 1978, 96f) Ich stelle mir vor, dass das Bild damals auf die ersten Betrachter sehr ähnlich wie die Eröffnungssequenz von Harlins „Cliffhanger“ heute auf ein (noch nicht an die Schockambitionen heutiger Kunst und heutiger Filme gewöhntes) Kind gewirkt haben muss. Der Konsens 1806 war: Ein grandioses Gemälde, aber sowohl in Motivwahl als auch in Ausführung etwas zu angestrengt.
Wenn die Sintflut in Wes Andersons jüngstem Werk „Moonrise Kingdom“ eine Art Metaerzählung bildet, und dieses Werk obendrein noch die fragilen Verhältnisse von Generationen, Gesellschaft und innerhalb von Familien zum Thema hat, schiene es aus der bis hierher dargelegten Perspektive nahezu angebracht, auch einen Cliffhanger einzubauen, in dem sich diese Konflikte verdichten. Zu meiner eigenen Überraschung habe ich, am selben Tag, an dem ich die soeben geschilderten Zusammenhänge erstmals für mich skizzierte, abends im Kino auch einen zu Gesicht bekommen. Ein Kirchengebäude fungiert in „Moonrise Kingdom“ selbst als Arche, von der zwei Heranwachsende in jedem Sinne abzufallen drohen: Bevor man sie wie am Ende ihres ersten gemeinsamen Weges erneut trennt, wollen die beiden Verliebten vom Kirchturm springen. Bruce Willis – der dem Zuschauer in „Die Hard“ noch versicherte: „I promise I will never even think about going up in a tall building again“ – wagt sich angeseilt hinterher, während rings herum das Unwetter tobt. Die Besetzung ist freilich kongenial gewählt: In Bruce Willis vereinen sich Ziehvater und Actionheld, Unternehmer und Versöhner. Er ist es, der zwischen Interessen der Kinder und dem Gesetz des Jugendamtes vermittelt, und als der göttliche Blitz diese Vermittlung noch einmal auf die Probe stellt (und zugleich einen „plausiblen“ Tathergang für einen Cliffhanger schildert), ist auch er allein es, der der Naturgewalt etwas entgegenzusetzen hat.
Bruce Willis agiert mutig, aber noch nicht souverän. In keiner der bisher analysierten Szenen konnte irgendein Teilnehmer eine Souveränität gegenüber den Naturmächten für sich beanspruchen. Freilich, Patrick Swayzes „Bodhi“ kitzelt das Spiel mit dem Tod. Und Heath Ledgers Joker, ein „pervertierter Übermensch“ (Daniel Bickermann im mittlerweile leider eingestellten Schnitt), darf als einziger der göttlichen Strafe höhnisch entgegenlachen. Simba musste erst von seiner Schuld erlöst werden. Und alle anderen kämpfen oder resignieren mit ihren Menschenmitteln gegen die Grausamkeiten des Werdens. Jene Hybris, die den Kampf gegen die Natur entwerten würde, sie zu einem Spiel ohne dem höchsten aller Einsätze degradierte, war bisher noch nicht zu finden.
This thing called life – Szene aus „Blade Runner“ (Foto: © Warner)
In „Blade Runner“ wird der Androide Roy Batty zuletzt zur Personifikation dieser Hybris, wenn er seinen vormaligen Jäger und Mörder seiner Angehörigen Rick Deckard über die Dächer von L.A. jagt (man hatte mit dem Gedanken gespielt, das Zukunfts-L.A. als eines, das mit San Francisco zusammengewachsen war, darzustellen; was dann nicht nur eine formale sondern auch eine seltsame urbane Nähe zu Hitchcocks Vertigo herstellen würde; vgl. Sammon 1996, 75). An der Außenfassade kletternd, an den Simsen balancierend, über die Häuserschluchten springend – Ridley Scott inszeniert die Urbanität als postapokalyptisches Gebirge, das, als Menschenwerk der Schwerkraft trotzt (der Turmbau zu Babel folgt in der Bibel direkt auf die Sintflut). Roy Batty weiß sich in den Höhen zu behaupten, während Deckard an der Kante eines Metallvorbaus über dem Abgrund endet. Schwerkraft und Strafe existieren auch noch hier. „Quite an experience to live in fear, isn’t it?“, fragt Batty von oben herab. „That’s what it is to be a slave.“ Ein Herrschaftsverhältnis etabliert sich, Batty hat sich, William Blakes Orc gleich, von seinen Fesseln gelöst, zur Freiheit aufgeschwungen und andere sich unterworfen. Deckard aber trotzt dieser Übermacht, wenn er im Moment seines Versagens – und dieser Moment ist so kurz, dass er kaum bemerkbar ist – Batty entgegenspuckt. Dieser Trotz muss den lebensliebenden Batty so imponieren, dass er reflexartig – auf den reflexhaften Antrieb dieser Handlung verweist ein Zitat Scotts vom Set (Sammon 1996, 194) – Deckard auffängt und in aufrechter, erhabener Haltung mit einem Arm zurück aufs Dach hebt.
Die Ängste, denen Scottie in „Vertigo“ ausgesetzt ist, tangieren Roy nicht einmal; kein Schwindel befällt ihn. Er ist kein Mensch, sondern als Replikant „menschlicher als der Mensch“. Die einzige Steigerung, die hierzu noch möglich wäre: Anstatt souverän mit den Naturgesetzen umgehen zu können, diese einfach zu brechen. Auch das wurde in Form des Cliffhangers in Bilder gefasst.
Stellt man den Titel von Hayao Miyazakis „Das Schloss im Himmel“ Hitchcocks „Vertigo“ gegenüber, so fällt bereits hier eine gewisse Spannung auf: Letzterer handelt von dem Schwindelgefühl, das der Höhenangst entspringt; der andere bezeichnet einen Ort, an dem sich dieses Schwindelgefühl permanent aufdrängen müsste. Darüber hinaus wäre ein Schloss an sich bereits ein Zeichen von Souveränität – dadurch, dass es in die Lüfte erhoben wird, findet es noch einmal eine Steigerung.
Der Film handelt von Pazu, dessen Vater ein Leben lang erfolglos nach dem ominösen fliegenden Schloss namens Laputa gesucht hat; diese Sehnsucht wurde Pazu in die Wiege gelegt. Für Sheeta, als Nachfahrin jenes über Laputa herrschenden Geschlechtes, ist die Suche nach dem Schloss zugleich eine Suche nach ihrer eigenen Herkunft; aufgrund dieser genealogischen Herkunft spiegelt sie auch die Sehnsucht Pazus.
Es geht auch anders – Szene aus „Das Schloss im Himmel“ (Foto: © Universum)
Die Liebesbeziehung zwischen Pazu und Sheeta bleibt meist subtilen Andeutungen unterworfen, ihre Körperlichkeit wird nie explizit, aber niemals auch gehemmt – sie zögern nicht mit ihren Berührungen, sie kommen sich wie selbstverständlich kontinuierlich näher, bis zu jenem Punkt im letzten Drittel des Films, an dem sie sich aneinandergebunden vorfinden. Diese Beziehung wird bereits im ersten Drittel als Cliffhanger codiert. Beide hängen von einer Eisenbahnbrücke herab, Pazu krallt sich am Holz fest, Sheeta mit der anderen Hand haltend, bis er zuletzt loslassen muss, und beide in die Schlucht darunter fallen. Bis zu diesem Punkt sehen wir eine konventionelle Rollenverteilung mit einem Ausgang nicht wie bei „Cliffhanger“ (wo die Frau fällt), nicht wie bei „Vertigo“ (wo der Helfer fällt), und auch nicht wie bei „Blade Runner“ (wo beide Parteien in Sicherheit enden). In Miyazakis Film fallen beide.
Zwischen dem binären Code Rettung/Sieg oder Sturz in den Tod (nur Joe Simpson überlebt ihn) findet Miyazaki allerdings eine dritte Auflösung zwischen männlichem Sieg und männlicher Niederlage: Sheeta wurde ein Flugstein vererbt, den sie um den Hals trägt, und der beide Parteien sanft zu Boden schweben lässt. Anders als in „The Lion King“ lässt sich die Frau hier nicht überwältigen, sondern löst die Situation nach dem Versagen des Mannes selbst (und unbewusst) auf. Ähnlich wie sein Vater im Suchen des Luftschlosses versagte, versagt Pazu im Cliffhanger; doch kommt die Kraft des gesuchten Schlosses zu ihm – Laputa nimmt sich seiner an, statt andersherum. Die jeweils vererbten und aufeinander verweisenden Leidenschaften der beiden Hauptcharaktere binden sich im Taumel des Cliffhangers (bzw. des Sturzes) aneinander. Hier begegnet uns tatsächlich das Gegenteil zu Vertigo: Der Konflikt wird nicht durch den vergeblichen Kampf bestimmt, sondern durch das Loslassen überwunden, vor dem sich James Stewart so sehr fürchtet.
Literatur:
– Cleaver, Dale: „Girodet’s Déluge, A Case Study in Art Criticism“, in: Art Journal. Vol. 38, No. 2,
1978, 96-101.
– Devereux, Joanna: Patriarchy and Its Discontents. Sexual Politics in Selected Novels and Stories of Thomas Hardy. Ed. by William Cain. London/New York: Routledge 2003 [=Studies in Major Literary Authors. Outstanding Dissertations #17].
– Halperlin, John: „Leslie Stephen, Thomas Hardy, and ‘A Pair of Blue Eyes’“, in: The Modern Language Review. Vol. 75/No. 4. Oct. 1980, 738-745.
– Mulvey, Laura: „Visual Pleasure and Narrative Cinema“, in: Dies.: Visual and other pleasures.
Second Edition (First Edition 1989). Houndmills Basingstoke: Palgrave Macmillan 2009, 14-27.
– Radford, Andrew: Thomas Hardy and the survivals of time. Aldershot: Ashgate, 2003.
– Sammon, Paul M.: Future Noir. The Making of Blade Runner. New York: HarperCollins 1996.
– Scharfe, Martin: Berg-Sucht. Eine Kulturgeschichte des frühen Alpinismus 1750-1850. Wien/Köln/Weimar: Böhlau 2007.