Eine Lokomotive wuchtet sich ins Bild, Beine huschen über einen Bahnsteig, Menschengewühl. Halbnah trippelt eine junge Frau neben den Rädern der Lok: Dita Parlo, sie spielt Denise Baudu, ein Waisenkind aus der Provinz. Denise schleppt mit sich herum, was sie besitzt; sie schaut, einen Pappkarton unter den Arm geklemmt, mit großen Augen neugierig und nervös auf den Tumult der Welt. Jetzt schiebt sich die Lokomotive bauchig und schwarz auf den Zuschauer zu. Es ist der Anfang von „Au bonheur des Dames“ (1930), Julien Duviviers letztem Stummfilm, der damals unter dem schrecklichen Titel „Das Mädchen vom Kleiderlager“ in die deutschen Kinos kam. Aus dem Bahnhof geht es hoch in die Lüfte: ein Doppeldecker schwimmt in den Wolken, der Pilot wirft etwas aus der Kabine, ein Etwas, das sich in Flugblätter auflöst; die Kamera beobachtet, wie sie beschwingt flatternd zur Erde taumeln. Denise blickt nach oben, ihre Augen strahlen, als wollten sie die Flugblätter auffangen, eines hat sie in der Hand, darauf steht: „Tout ce que vous désirez au bonheur des dames“.
Das Glück der Damen ist im Krisenjahr 1930 Dreh- und Angelpunkt von Paris, es erregt die Boulevards und beschleunigt das Hasten und Jagen, es zwinkert von den Plakaten, wohin sich Denise auch windet und wendet, es stellt sich quer, wenn sie einem Radfahrer, einem Automobil ausweichen will – und es malt am Ende, wie eine Fata morgana, etwas ganz Unwahrscheinliches, Überwältigendes in den Himmel: „Au Bonheur des Dames“, das neue Kaufhaus, das modernste in Europa, ist eröffnet, und es ist so etwas ähnliches wie das Paradies, ein schneeweißer Traum inmitten der grauen Stadt. Mit seinen Trickkünsten hat der Set Designer Percy Day das pure Glück in das reale (Studio-)Paris hineingespiegelt.
Was hier mit kantigen Schnitten, schnellen Überblendungen und Doppelbelichtungen wie eine Querschnitt-Montage der „Neuen Sachlichkeit“ funktioniert, ist ein bisschen mehr: Duvivier schreibt dem Wirbel der Bilder eine kleine Geschichte ein – und sein Nachdenken über Großstadt und Einsamkeit, über Reklame und Verzauberung, über das Chaos des Alltags und das unserer Wünsche. Denise, zunehmend desorientiert, verheddert sich auf der Suche nach einer Adresse im Strom der Passanten; ziemlich ruppig räumt sie ein Polizist von der Straßenkreuzung. Die Adresse ist die ihres Onkels, eines Tuchhändlers, der genau gegenüber dem neuen Warenhaus seinen altmodischen Laden betreibt. Hier beginnt, was uns Duvivier, inspiriert von einem Roman Emile Zolas, erzählen will: die kleine Geschichte vom Untergang des Tuchhändlers Baudu, dem das glitzernde Einkaufsparadies auf der anderen Straßenseite, den Garaus bereitet. Und die große Geschichte von der Moderne, von der Zirkulation des Geldes und der Waren, vom Wachstum, vom Fortschritt und vom neuen Tempo, in dem alles Kleine und Alte, alles Liebenswerte und Verstaubte untergepflügt wird.
Dieser Text ist zuerst erschienen in: ray Filmmagazin
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