Dieser Beitrag entstand für die Veranstaltung: „Gedankenfilme – Storyboards aus bild- und filmwissenschaftlicher Perspektive“. Eine Gemeinschaftsveranstaltung der Deutschen Kinemathek – Museum für Film und Fernsehen und des Einstein Forums, Potsdam, im Rahmen der Ausstellung „Zwischen Film und Kunst. Storyboards von Hitchcock bis Spielberg“ vom 14. November 2011.
Nosferatu
In diese Abbildung muss man sich erst einmal hineindenken. Es handelt sich um eine Rückseite aus dem Drehbuch von Henrik Galeen zu Friedrich Wilhelm Murnaus Film „Nosferatu“ (1921); das Original wird von der Cinématheque Francaise aufbewahrt. Das Schreibmaschinenmanuskript hat Murnau mit handschriftlichen Bemerkungen versehen, und auf den Rückseiten des Textes finden sich gelegentlich Zeichnungen, offensichtlich auch von Murnaus Hand. Benutzt wurde transparentes Durchschlagspapier, so dass unter den Strukturen der Zeichnung, wie ein Palimpsest, die Struktur des Schreibmaschinentextes auf der Vorderseite zu sehen ist: seitenverkehrt und auf den Kopf gestellt. Das dicke schwarze Kreuz über dem zweiten Absatz besagt, dass die entsprechende Einstellung abgedreht wurde.
Was ist auf diesem Blatt zu sehen? Zu erkennen sind teils hingestrichelte, teils fein ziselierte Details, die auf eine Szene im 2. Akt von „Nosferatu“, Hutters Ankunft auf dem Schloss des Grafen Orlok, verweisen: der Grundriss des Saals mit den Ausgängen zur Burgterrasse und der Tür zu Hutters Zimmer, das Gewölbe über einer Fensternische, eine Aufrisszeichnung mit der Saaldecke und gotischen Fen-stern, unten auf der Seite ein Detail, das Murnau mit der Erläuterung „Feuerpfanne im Kamin“ versehen hat.
Die Zeichnungen Murnaus und anderer in den Drehbüchern der frühen 20er Jahre sind keine Storyboards. Aber sie sind aus jenem Stoff, aus dem die Träume vom fertigen Film gestaltet sind – die Träume, die der Regisseur oder sein Storyboard-Zeichner vom Endprodukt träumen. Das Kino im Kopf der Hersteller, das im Drehbuch sprachliche Form gewinnt und verschiedene Phasen der Verbildlichung durchläuft, bevor es auf der Leinwand Realität wird und vom Zuschauer in sein eigenes Produkt, in das Kopfkino des Betrachters verwandelt wird. Zusätzlich besteht der Charme dieser Drehbuchseite darin, dass sich aus der durchscheinenden Textform des Manuskripts gleichsam „erste Bilder“ herauszukristallisieren scheinen – während das Schriftbild verbleicht, gewinnt die Bildschrift an Präzision und Kontur. Dies gilt freilich nur im metaphorischen Verständnis – denn die Zeichnungen, die Murnau hier wie Notizen aufs Papier geworfen hat, beziehen sich auf eine ganz andere Szene als jene, die auf der Vorderseite des Manuskripts beschrieben wird.
Als Medienwissenschaftler hat man schnell Begriffe wie „Medienwechsel“ oder „Intermedialität“ parat – beide verfangen hier nicht. Sie gelten für die Beziehungen, die verschiedene Medien gleichberechtigt und demokratisch miteinander unterhalten. Zwar bestehen zwischen Drehbuchtext, Zeichnung und Film Beziehungen, diese aber unterliegen einer festgelegten Hierarchie. Drehbuch und Zeichnung sind immer schon Kino: das Kino im Kopf der Hersteller, das Notate, Skizzen, Vorstufen, Entwürfe benötigt, um zum Kino auf der Leinwand und im Kopf des Zuschauers zu werden. Besonders die Texte deutscher Drehbücher der 20er Jahre haben sich die Deskription von Bildern, potentiellen Filmbildern zur Aufgabe gemacht: sie beschreiben, oft bis ins Detail, was sich vor der Kamera ereignen soll oder ereignen könnte. Die Drehbücher des begnadeten Carl Mayer z.B. zu „Hintertreppe“ oder zu Murnaus „Der letzte Mann“ kann man als geschriebene Storyboards lesen: gerade mit ihren Interjektionen, ihrer Sprunghaftigkeit, ihrer eigenwilligen Interpunktion eilen sie nicht nur der Atmosphäre und dem materiellen Inhalt, sondern auch den Kamerabewegungen und der Montageform des Films voraus.
Die spontan hingeworfenen Zeichnungen Murnaus sind von ganz anderer Qualität. Ein wesentlicher Unterschied zum Medium Storyboard besteht natürlich darin, dass Murnau in diesen Skizzen nicht die Sequentialität der Bilder vorwegnimmt, sondern sich auf Dinge, Architekturelemente, im weiteren Sinne die Objektwelt seines Films konzentriert. Die Fensternische, die Täfelung der Saaldecke, die gotischen Fensterbögen, die Feuerpfanne (auf anderen Seiten finden wir Torbögen, Treppenstufen, Truhen und Schränke, sogar Kacheln, Schlüssel und Türklopfer) – es sind diese und ähnliche Objekte, auf die sich Murnaus antizipierende Phantasie richtet und die im Film als Ensemble auratischer Dinge wiederkehren. Ich nenne sie auratisch, weil es sich nicht um tote Gegenstände handelt, nicht um simplen Dekor, ebensowenig wie die Architekturelemente auf Kennzeichen einer bestimmten ‚location’ zu reduzieren sind. Die Dinge, so will es in Murnaus Filmen scheinen, bergen ihr eigenes Geheimnis, sie sind beunruhigend und verfügen über eine autonome, emblematische Existenz.
* * *
Spellbound, Alptraum-Sequenz
Diese „Aura der Dinge“ ist freilich auch den modernen Storyboards nicht fremd. Gewiss macht ein Storyboard zunächst und vor allem Vorschläge für das Organisationsschema der Bilder, für ihre Abfolge und innere Beziehung untereinander, für den Wechsel von Einstellungsgrößen, Kameraperspektiven und Montageformen, also für die Grammatik des Films. Eine Obsession für die Objektwelt und ihre spezifische Visualität ist jedoch bei vielen Zeichnern nicht zu übersehen. In Menzies’ und Bazevis Storyboard zur Traumsequenz in „Spellbound“ ist diese Obsession unverkennbar von Salvador Dalí inspiriert; Selznick hatte Dalí ja auch gebeten, Entwürfe zu zeichnen. Hitchcock wollte, wie er im Gespräch mit Truffaut zu Protokoll gab, „spitze und scharfe Konturen, härter als die Bilder des eigentlichen Films“ – einen magischen Realismus oder fotografischen Hyperrealismus, der auch menschliche Formen und Figuren, zumal Augen, wie Objekte erscheinen lässt.
* * *
Apocalypse Now, Hubschrauber-Sequenz
Besonders das Science Fiction-Genre und Kriegsfilme provozieren die Zeichner, den Menschen als Maschine darzustellen oder ihn in der Maschine verschwinden zu lassen. Ivor Beddoes fixiert sich auf die Waffen in „Star Wars“, Dean Tavoularis, wie in diesem Bild, auf die Hubschrauber in „Apocalypse Now“. Geniale Strichführung einerseits – Detailgenauigkeit andererseits: eine Wahrnehmung des mechanisierten und industrialisierten Krieges, die auch vielfach in der Comic-Literatur begegnet, etwa in den Zeichnungen Jacques Tardis über die Grauen des Ersten Weltkriegs. Nicht zufällig ist es die – geheimnisvolle oder fatale – Aura der Dinge, die eben jene Bilder evoziert, die wir als Kinozuschauer in unserer Erinnerung, also in unserem eigenen Kopfkino, mit Filmen wie „Star Wars“ oder „Apocalypse Now“ verbinden. Oder mit einem Film wie „Hammett“ von Wim Wenders.
* * *
Hammett – Schreibmaschine groß, seitlich
Offenbar verleiht gerade das Denken in Filmbildern, das Kino im Kopf des Zeichners den Dingen und ihrer Ausstrahlung einen besonderen Stellenwert. Die Alex Tavoularis zugeschriebene Storyboard-Sequenz für die Exposition von „Hammett“ (1982) wird der hypotaktischen Grammatik des filmischen Erzählens gerecht, konzentriert sich jedoch fast ausschließlich auf die Nahansicht von Objekten. Die Schreibmaschine, das unbeschriebene Blatt, der überquellende Papierkorb, der überfüllte Aschenbecher, Whiskyflasche und Schnapsglas – das sind die lebensnotwendigen Utensilien des Kriminalromanautors.
* * *
Hammett – Papierkorb
Tavoularis inszeniert diese Gegenstände mit zeichnerischen Mitteln, rückt sie in den Focus und antizipiert mit der Kadrage den ‚frame’ des Filmbildes. Er macht Vorschläge. Er wechselt zwischen Nah-, Groß- und Detaileinstellungen, zwischen dem Blick von der Seite, aus halber Höhe oder extremer Aufsicht. Dabei werden aus den Gebrauchsgegenständen – Insignien, Dinge, die ihre eigene Geschichte erzählen und zugleich auf etwas anderes verweisen: auf das Schicksal dessen, der sich ihrer bedient.
* * *
Hammett – Aschenbecher
Die Produktionsgeschichte von „Hammett“, 1979 bis 1982, ist äußerst kontrovers und für Wenders mit bitteren Erfahrungen, auch in der Auseinandersetzung mit dem Produzenten Coppola, verbunden. Am Ende, 1982, sind fast vier Jahre vergangen und vier Drehbuchautoren verbraucht. In einer der vielen schwierigen Phasen schlägt Coppola einen ungewöhnlichen Zwischenschritt vor: er lässt Wenders eine Hörspielfassung herstellen, die von Alex Tavoularis, dem Bruder des Produktionsdesigners Dean Tavoularis, in Zeichnungen übersetzt wird, also in ein Storyboard, das bereits eine szenische Fassung, nämlich das Hörspiel, zur Grundlage hat. Gleichzeitig soll der gezeichnete Film im klassischen Sinn Vorstufe und Arbeitsinstrument für den gedrehten Film sein. Zeichnungen und gesprochene Dialoge lässt Coppola in einem Computer speichern – im Jahr 1979 absolut revolutionär. Das Ergebnis ist jedoch so enttäuschend, dass Coppola das Drehbuch aus dem Fenster geworfen haben soll.
* * *
Hammett – Schreibmaschine, seitlich
Die Ironie will es, dass die Zeichnungen von Alex Tavoularis – bei allen Änderungen, Umbesetzungen und Verzögerungen, die Wenders hinnehmen muss – für die Einführungsszene ihre antizipierende Kraft behalten haben: die Aura der Dinge hat ihre Magie bewahrt. Vor allem natürlich die Schreibmaschine, mit deren Tastatur der Film, nach einer Kamerafahrt von außen nach innen und über die Schulter des Autors blickend, der Film beginnt und die der verwickelten Handlung mit ihren zwei Ebenen eine Struktur verleiht.
* * *
Hammett – Der Autor an der Schreibmaschine, von oben
Dashiell Hammett, der Krimi-Autor, beendet gerade eine Geschichte, aber es zeigt sich, dass er als unfreiwilliger Detektiv in einen realen Kriminalfall verwickelt werden muss, um diese Geschichte noch einmal neu aufzurollen und ihr ein stimmiges Ende zu geben. Den Wechsel zwischen den beiden Ebenen strukturiert auch im weiteren Verlauf des Films die Schreibmaschine: jener Apparat, dem der Transfer zwischen Leben und Kunst, Realität und Phantasie aufgetragen ist.
* * *
Hammett – Schreibmaschine, groß, von oben
So taucht das Wort „The End“ zweimal auf: am Anfang, wenn Hammett sein Manuskript abschließt – und am Ende, wenn der reale Kriminalfall gelöst, das neue Manuskript vollendet und so auch der Film zu seinem Schluss gekommen ist. Die Schreibmaschine, das viele zerknüllte Papier, der Aschenbecher mit seinen vielen Kippen, der nur vom Lichtkreis der Lampe erhellte Schreibtisch – all dies evoziert die tief verschattete Welt, durch die sich der Detektiv ebenso wie der Kriminalschriftsteller bewegt.
* * *
Hammett – Schnapsglas, Manuskript
Zum Manuskript gehört der Alkohol, weil diese erbärmliche Welt nicht ohne ihn zu ertragen wäre: Das verbindet die Rolle des Detektivs, der das Verbrechen bekämpft, mit der des Autors, der die Niederlagen und die seltenen Siege im Kampf gegen das Verbrechen protokolliert. Es verbindet ebenso Sam Spade, den literarischen Helden Dashiell Hammetts, mit Phil Marlowe, seinem Pendant und Kollegen in den Romanen Raymond Chandlers.
* * *
Hammett – Der Autor und der Schnaps
Die Exposition des Films führt alles zusammen: die düstere Stimmung der hardboiled novel, kreiert von Hammett und Chandler, den „Malteser Falken“ und „The Big Sleep“, den Film noir und seinen Mythos, den Humphrey Bogart mit begründet hat. Dies ist zweifellos Wim Wenders zu danken, aber die Objektwelt, das Ensemble der Dinge, die Tavoularis in seinem Storyboard exponiert hat, liefert die authentische Skizze zum ausgemalten Tableau.
* * *
Bildnachweise:
„Nosferatu“: Lotte H. Eisner: Murnau. Mit dem Faksimile des von Murnau beim Drehen verwendeten Orginialskripts von Nosferatu. Kommunales Kino Frankfurt am Main 1979, S. 525
„Spellbound“: David O. Selznick Collection, Harry Ransom Center, University of Texas, Austin
„Apocalypse Now“: American Zoetrope Films, San Francisco
„Hammett“: Deutsche Kinemathek, Sammlung Wim Wenders, Berlin