„Ich sehe in mich – alles bewegt sich
Blicke um mich – nichts ist so wie gestern
Alles löst sich auf
Alles ist erlaubt“
(Roter Mond, Der Moderne Man, 1982)
Wo liegen die Anfänge des Kinos, was änderte sich mit dem Eintreten des Films in die Kultur, wie bezeichnend ist die Etablierung des Mediums Film für seine Zeit?
Als ein veritabler Zeitreisender entpuppt sich nach seiner „UFA-Story“ (Filmbuch des Jahres 1992) wieder einmal der Medienwissenschaftler, Kritiker und freie Publizist Klaus Kreimeier, wenn er mit seinem neuen über 400 Seiten umfassenden Buch „Traum und Exzess – Die Kulturgeschichte des frühen Kinos“ nicht nur nach den Entstehungsbedingungen des Kinos forscht, sondern auch herausarbeitet, wie folgerichtig die Entwicklung der Kinematographie in ihrer Zeit vor einhundert Jahren stattfand, nicht nur aufgrund der zu ihrer Zeit gegebenen technologischen Voraussetzungen, auch in einer Logik eines veränderten Rezeptionsbedürfnisses in der Moderne.
Kreimeiers akribische, mehrfache Sichtung hunderter Filme der Frühphase des Kinos und sein intensives Studium zeitgenössischer Dokumente, Romane, Zeitungsberichte aus dem Kulturgeschehen der Epoche seit Mitte des 19. Jahrhunderts führt zu einer plastischen Reise in die Geburtsphase der Moderne, eine Reise, an deren Ziel wir mehr über die Medienwirklichkeit unserer Gegenwart und über Globalisierung erfahren haben werden, als wir zu träumen wagten.
Im Wirkungsverhältnis vom Film zum Menschen spiegeln sich, wie Kreimeier zeigt, das Bewusstsein des Menschen der Moderne konstituierende Faktoren, eine neue, beschleunigte Auffassung der Wirklichkeit, ein Multitasking der Sinne sozusagen, und das Entwickeln neuer, unterbewusster, halbbewusster (Traum-)Verarbeitungsstrategien, ohne die wir in der modernen, schnellen, entindividualisierten Welt nicht überleben könnten.
Das Kino spiegelt zugleich die Verfeinerung der Marktstrategien und die Entwicklung moderner Betriebswirtschaft: die massenhafte und industrielle Verbreitung und Erfassung des Mediums Film, welches aus dem „Jahrmarkt- und Schaustellergewerbe des 19. Jahrhunderts [hervorging]“, von der „Etablierung ‚vertikaler‘ Produktions- und Vertriebsstrukturen bis zum modernen Marketing.“
In der Genese des Kinos und des Films, so also Kreimeiers Lesart der Kinogeschichte, bildet sich eine komplette moderne Kulturgeschichte und zugleich eine Geschichte der modernen Wirtschaft mit all ihren wechselseitigen Verzweigungen und Verflechtungen ab, mit anderen Worten, in unserem subjektiven Träumen im Kinosaal ist auch immer das Summen der Maschine, und nicht nur das des Projektors, eingepflanzt …
„Traum und Exzess“ ist nicht nur ein reichhaltiges und facettenreiches Nachschlagewerk zur frühen Filmgeschichte, es ist auch ein aufschlussreiches Lesebuch zur Moderne, ihrem Geist und ihren Triebkräften.
Klaus Kreimeier: „Traum und Exzess – Die Kulturgeschichte des frühen Kinos“
Paul Zsolnay Verlag, 2011, 414 Seiten, 29,80 Euro