David Lynch (1946–2025)

Jenseits von Lumberton. Ein Nachruf
von Christian Keßler

Wenn ich an David Lynchs Kunst denke, dann sehe ich vor meinem geistigen Auge Feuerwehrmänner, die lässigen Greisen in idyllischen Vorgärten zuwinken, ich sehe den Engel am Ende von „Fire walk with me“, und ich sehe den glücklichen Gesichtsausdruck von Harry Dean Stanton, wenn er am Ende zusammen mit Richard Farnsworth ins All blinzelt. Ich sehe das Schöne.

Das Hässliche, das ist Frank, wenn er in Pornosprech und drogenberauscht seine Schandtaten ankündigt. Wenn Wild Bill in „Twin Peaks“ die Zähne fletscht. Wenn die Unschuld geschändet und die Rose geknickt wird. Das Hässliche liegt mit dem Schönen im Dauerclinch, nicht nur bei Lynch, auch in unserer Parallelwelt. Ich fühle mich bei dem Filmemacher aus dem ländlichen Montana immer an Lars von Trier erinnert, wenn jener die Folgen seiner eigenen Lynch-Serie ankündigte, „Geister“, und vom Guten und vom Bösen berichtete.

Der Larsemann lebt, David Lynch ist jetzt im leichten Land. Ich hätte nicht gedacht, dass mir das so an die Nieren geht, aber Lynch war einer meiner Lieblingsregisseure. Wenn Menschen nicht mehr da sind, die uns nahestehen, dann werden sie immer ein Teil von uns. Sie müssen nicht brillant gewesen sein, sie müssen nicht fehlerfrei gewesen sein, sie sind trotzdem drin im Genremix, der uns ausmacht. Lynch war niemals ein Genreregisseur, auch wenn er sich häufig der Genremotive bediente. „Blue Velvet“ ist irgendwie Noir, „Wild at Heart“ hat viel vom 50er-Rock´n´Roll. Trotzdem erzählte der Mann immer seine eigenen Geschichten.

Lynch hatte eine unglaubliche Karriere. Nach einigen experimentellen Kurzfilmen drehte er den plättenden Avantgarde-Underground-Klopper „Eraserhead“, mit seinem fiesen Baby und noch fieseren Zukunftsaussichten für den Protagonisten Jack Nance. Ein Film, der als „Midnight Movie“ reüssieren kann, wenn man Glück hat, und dann verschwindet er wieder im Orkus, auf Nimmerwiedersehen. Im Falle von Lynch bekam der Mann einen Deal mit der Produktionsfirma von Mel Brooks und drehte „Der Elefantenmensch“, mit John Hurt, Anthony Hopkins und Freddie Francis‘ Edellinse. Acht Oscarnominierungen waren die Folge. Danach der von Dino de Laurentiis produzierte „Wüstenplanet“, den kaum jemand mochte, mich ausgenommen. Mit „Blue Velvet“ machte er den richtigen Film zur richtigen Zeit, und der Rest ist Geschichte.

Ich frage mich, was es ist, das den besonderen Reiz seiner Filme ausmacht. Vielleicht liegt es daran, dass er selbst unglaublich zufrieden wirkte, kein depressiver, verpeilter Künstlertyp, der den strengen Maßgaben, die vorherige Erfolge schufen, um jeden Preis gerecht werden will, sondern der einfach seine Geschichten erzählte. Schon bei „Blue Velvet“ nervten mich damals im Kino die Leute, die den Film offenbar als ironischen Meisterstreich empfanden und sich über das Idyll von Lumberton lautstark beölten. Wenn am Anfang die Feuerwehrleute winken, empfinde ich das nicht als ironisch. Wenn der verdammte Engel am Schluss auf Twin Peaks niedersinkt, noch viel weniger. Ich bin fest davon überzeugt, dass Lynch die Welt so schilderte, wie er sie sah. Er war ein ungemein direkter Geschichtenerzähler. Das Böse ist meistens garstig und gemein, das Gute erzählt mit leuchtenden Augen vom Traum vom Rotkehlchen. Es ist manchmal nicht komplizierter, und nichts davon ist banal. Es ist das, was wir uns erhoffen, und es ist das, was wir manchmal nur im Kino in der ersehnten Vollkommenheit bekommen. In dreams I walk with you…

Für Audiokommentare stand Lynch nicht zur Verfügung. Er wollte seine Filme nicht ausdiskutieren und vorkauen, er sperrte sich gegen eine allgemeingültige Exegese. Ihm war daran gelegen, dass jeder die Filme auf eine eigene Art erlebt und empfindet. Dass seine Filme eine Zeit lang für eine bestimmte Zuschauerschaft als „chic“ galten, mag auf einem Mißverständnis beruhen. Ich erinnere mich noch sehr gut an die quälende Kinovorführung des drei Stunden langen, nichtsdestotrotz tollen „Inland Empire“, bei der einige besonders ungeduldige Vertreter der „Intelligentsia“ ihrem Unmut mit Lippenfürzen und ähnlichen Ungehörigkeiten Ausdruck verliehen. Die wollten wohl ihr Selbstbild bestätigt sehen und bekamen nicht das geboten, was sie erwarteten. Denen hätte ich den gerade einmal 40 Minuten langen „Rabbits“ gewünscht oder Lynchs frühen Kurzfilm „The Grandmother“, die ich beide sehr liebe. Lynch verbog sich niemals für irgendwelche Erwartungshaltungen. Er machte sein Ding und hatte Spaß dabei. Während „Blue Velvet“ vermutlich einen bedeutenden Wendepunkt in seinem Schaffen darstellte, so liegt mir die Serie „Twin Peaks“ sogar noch mehr am Herzen, da sie Lynchs Vision in den damals noch extrem rigiden, strengen, verklemmten TV-Kanon umformulierte. Das Ergebnis begeisterte Millionen. Es bot das Bild einer Kleinstadtwelt, in der Menschen zu Monstern und zu Feen und „Prince Charmings“ werden. Es gehört zu den großen Gerechtigkeiten des Lebens, dass dieser famose Mann noch eine weitere Staffel drehen durfte, ein prachtvolles Schleifchen, mit dem er sein Werk würdig verschließt.

In den letzten Jahren habe ich Lynch immer nur bei seinen Internet-Wetterberichten erlebt, in denen er unermüdlich seinen Freunden und Bewunderern Mut machte auf den Tag, der vor ihnen liegt. Ich kann mir kaum eine noblere Art vorstellen, ein Werk abzuschließen. David Lynch mag jetzt nicht mehr persönlich zugegen sein, aber er hat mit seiner Arbeit und mit seinen Geschichten das Leben unzähliger Menschen bereichert. Und wenn man selbst natürlich am liebsten Agent Cooper wäre – ein wenig Wild Bill ist immer in einem drin, ein wenig Leland Palmer, und Deputy Andy sowieso. Ich überlasse akademisch geschulterem Personal als mir die konkrete Ausdeutung von David Lynchs Lebenswerk. Mir schenkte der Mann Bilder von der häufig hart umkämpften Schönheit des Lebens, nach der wir uns alle sehnen. Ich bin einerseits sehr traurig, dass er nun nicht mehr da ist, andererseits aber auch angefüllt von der Pracht, die er in seinem Leben geschaffen hat. Und für die bin ich ihm sehr dankbar. Ganz große Liebe!

Abb. oben aus David Lynchs „The Straight Story“ (© StudioCanal)

Foto: © StudioCanal