„Es ist die Zeit gekommen, in der die Erinnerungen den Ton angeben…“, schreibt der hochbetagte französische Schauspieler Michel Piccoli (1925-2020), dessen Gedächtnis schwächer zu werden beginnt, gegen Ende seiner brieflich verfassten Memoiren „Ich habe in meinen Träumen gelebt“. Ausgetauscht und geteilt hat er seine Erinnerungen an ein bewegtes und vielseitiges Schauspielerleben mit seinem langjährigen Freund Gilles Jacob, dem Filmkritiker und früheren künstlerischen Leiter der Filmfestspiele von Cannes. Nachdem die beiden vierzig Jahre lang freundschaftlich und gewitzt miteinander korrespondiert haben (einige Brief-Faksimiles sind im Anhang des Buches beispielhaft abgedruckt), schlägt der 1930 geborene Jacob vor, „den Lebensfaden anhand eines Briefwechsels noch einmal zu spinnen“. Während er selbst für dieses Projekt als Fragesteller und Stichwortgeber fungiert und mit seinen Fragen die jeweiligen Kapitel einleitet und vorstrukturiert, antwortet Piccoli in einem einfachen, flüssigen Erzählstil. Er gibt so nacheinander Auskunft über seine Kindheit, seine Lehrjahre am Theater, die Arbeit beim Film, die ihn im Laufe von über 200 Werken berühmt gemacht hat, sowie über seine Ansichten zum Beruf des Schauspielers.
Als „Ersatzkind“ und „Stellvertreter“ für einen zuvor verstorbenen älteren Bruder in einer Musikerfamilie italienischer Abstammung geboren, wächst das Einzelkind mit dem „Gefühl, kein eigenes Leben zu haben“, in der beklemmenden Atmosphäre beengter Wohnverhältnisse auf. Auch wenn Michel, der nach eigenem Bekunden ein schlechter, weil fauler Schüler war, seine Kindheit als einsam und langweilig empfindet, bezeichnet er sie trotzdem als glücklich. Die Leidenschaft für das Leben und sein späteres Metier erbt er allerdings nicht von seinen leidenschaftslosen Eltern, sondern von einem ebenfalls als Musiker künstlerisch tätigen Onkel und seiner Frau: „Sie schenkten mir Lebenszeit und besondere Momente. Um sie herum war Fröhlichkeit und Fantasie.“ Dagegen attestiert er seinen Eltern, sie seien zwar Künstler gewesen, die „es aber nicht verstanden, mich in die Kunst einzuführen.“ Die Leidenschaft für das Schauspielen entdeckt der Heranwachsende schließlich während und nach dem 2. Weltkrieg. Es wir zunächst zu seinem Fluchtort, später zu seinem neuen Zuhause.
Obsessiv, voller Begeisterung und mit einem unbändigen Freiheitsdrang stürzt sich der junge Michel Piccoli in die Theaterarbeit, die zu seinem eigentlichen Leben wird. Trotz seiner Lust an der Verkleidung und der Maskerade sind ihm theatralische Gesten und ein exaltiertes Spiel suspekt. Die Sorge, prätentiös, eitel oder gar überheblich zu wirken, zieht sich durch sein künstlerisches Leben und charakterisiert ihn als einen Menschen, der immer wieder das Ideal der Bescheidenheit den Gefahren der Selbstgefälligkeit entgegensetzt. Mit seinem Spiel wiederum, das möglichst einfach sein soll, dabei zugleich Verrücktes und Außergewöhnliches einschließt, will er überraschen und verblüffen. Jenseits eingefahrener Routinen möchte Piccoli „wie ein ewiges Kind“ neugierig bleiben auf der Suche nach etwas anderem oder Neuem.
Diese Beweglichkeit führt ihn in den 1960er und 70er Jahren schließlich zum Film und zur Zusammenarbeit mit Meisterregisseuren wie Luis Buñuel, Jean-Luc Godard, Marco Ferreri und Claude Sautet, denen er neben anderen in seinen Erinnerungen kurze Portraits widmet. Zeitlebens sieht er sich dabei mit seiner Lust am Abgründigen und Außergewöhnlichen sowie mit seinem distanzierten, antiillusionistischen Schauspiel stets als Diener und Werkzeug der Autoren und Filmemacher.
Michel Piccoli mit Gilles Jacob: Ich habe in meinen Träumen gelebt. Erinnerungen. Aus dem Französischen und mit einem Nachwort von Ralph Eue. Alexander Verlag Berlin, 2024. 192 Seiten, 14 Abbildungen, 24 Euro.