„Wäre ich nicht Bob Dylan, wäre ich sicher auch davon überzeugt, dass Bob Dylan jede Menge Antworten hat“, lautet ein Zitat des Folksängers, das nicht von ungefähr als Motto über Bertrand Bonellos Film „Vom Kriege“ („De la guerre“) aus dem Jahre 2008 steht. Denn darin befindet sich der Filmemacher Bertrand (Mathieu Amalric) als mutmaßliches Alter Ego des französischen Regisseurs und Musikers in einer sowohl existentiellen als auch künstlerischen Krise. Zu Beginn sieht man ihn beim Telefonieren mit seiner Freundin Louise (Clotilde Hesme) hinter der Scheibe eines Waschsalons, ohne ihn zu hören. Bertrands Distanz zu seinem Umfeld ist also eine doppelte und verweist zugleich auf seine persönliche Isolation, in der er allein ist mit seinen Fragen. Alles falle ihm schwer, sagt er, der das Leben sucht, ja von ihm überwältigt werden möchte und ihm doch ausweicht.
Bonello spiegelt diese autofiktionale Künstlerproblematik außerdem im neuen Filmprojekt seines Protagonisten, für das dieser in einem Beerdigungsinstitut recherchiert. „Es geht um jemanden, der viel an den Tod denkt“, beschreibt Bernard seinen noch jungen Helden, der das Gefühl habe, „nie da zu sein, wo er sein müsste.“ Für die Nacht erhält Bertrand vom Inhaber (Vincent Macaigne) die Erlaubnis, in dem Ausstellungsraum mit den Särgen bleiben zu dürfen. Als er sich in einen von diesen legt und sich der Sargdeckel unvermittelt schließt, erlebt er den Albtraum einer Gefangenschaft zwischen Leben und Tod, Wirklichkeit und Traum. Am darauffolgenden Morgen beschreibt der Filmemacher sein Schockerlebnis allerdings zugleich als genussvoll und ekstatisch, mithin als einen Zustand der Erhabenheit.
Um das durch diese Initiation ausgelöste „göttliche Gefühl“ wiederzufinden, entsagt Bertrand seinem bisherigen Leben und lässt sein privates und berufliches Umfeld hinter sich. Fortan sucht er nach der absoluten Gegenwärtigkeit einer reinen Existenz. Bonello zitiert dafür den gleichnamigen Film von David Cronenberg. Vor allem aber stellt er seinem Suchenden mit dem mysteriösen Charles (Guillaume Depardieu) einen Begleiter an die Seite, der ihn in die Landkommune einer Aussteiger-Sekte einführt. Deren zugewandte, charismatische Führerin Uma (Asia Argento) propagiert Genuss durch Entsagung sowie eine Freude, die sich nur dadurch erreichen lasse, dass man wie ein Krieger kämpfe. Bertrand Bonello hat seinen spirituellen Film deshalb lose nach Kapitelüberschriften aus dem titelgebenden Buch des preußischen Militärtheoretikers Carl von Clausewitz gegliedert.
Schon darin zeigt sich das von disparaten Elementen besetzte Feld, auf dem Bonello zur Beschreibung eines krisenhaften Sinnverlustes eine Reihe von esoterischen, mythologischen und philosophischen Motiven versammelt hat. Diese wiederum sind verschränkt mit Selbstzitaten (etwa dem Film „Tiresias“, 2003) sowie Referenzen auf „Woyzeck“ und „Apocalypse Now“, Pasolini und Dylan. Im experimentellen, mit einfachen Mitteln gestalteten Setting entfaltet sich insofern eine anspielungsreiche, symbolische Handlung, die mitunter auch die Realitätsgrenze verwischt.
Nach Meditationsübungen, ritualisierten Kämpfen, Deprivationszuständen und ekstatischen Tänzen – einem Katalog suggestiver oder auch entgrenzender Praktiken, die Bonello nicht ohne Ironie inszeniert -, scheint Bertrand allmählich eine neue Stufe des Bewusstseins zu erreichen, auch wenn das banal oder komisch klingen mag: „Heute habe ich akzeptiert, dass ein gewöhnlicher Tag ein schöner ist.“ Doch selbst nach der akuten Krisenbewältigung ist sein utopisches Verlagen noch nicht gestillt. Dass Bertrands Weg zur individuellen Befreiung und zur Erfahrung von Transzendenz schließlich in einer Art Selbstapotheose kulminiert, scheint dann doch gewagt, wird durch Dylans Song „She belongs to me“ aber zugleich auf den Boden schillernder „Tatsachen“ zurückgeholt und damit abgemildert.
Der Film ist bis zum 31.10.2022 in der Arte-Mediathek verfügbar.