Aufblende. Ein Schild an einem Maschendrahtzaun: „No trespassing“. Die Warnung ist mehrdeutig. Auch das Bilderdickicht der folgenden drei Minuten scheint undurchdringlich.
An der berühmten Anfangsszene von Citizen Kane (Orson Welles, USA 1941) haben sich Generationen von Kritikern abgearbeitet. Zu Recht: Der mal fließende, mal abrupte Wechsel von long shots und close-ups mit ihren extremen Varianten, von irritierenden Lichteffekten und Überblendungen provoziert jeden analysebesessenen Cinéasten. Was ist da zu sehen? Man kann es als einen labyrinthischen Traum beschreiben, als Reise durch die Hirnwindungen eines Delirierenden, als Geisterfahrt ins Herz einer ort- und raumlosen, aber bilderreichen Finsternis.
Kamerafahrt und Überblendungen auf ein schmiedeeisernes Tor, seine Ornamente zeigen ein großes „K“. Im Hintergrund, hinter Nebelschwaden wie im Himmel hängend, sind die Zinnen und Türme eines Fantasieschlosses zu sehen, ein einziges Fenster ist erleuchtet. Überblendungen: Die Bilder schwimmen zwischen Realität und Wahn. Exotik: Affen turnen in einem Käfig, Palmen, zwei Boote in einer Lagune, im Wasser spiegelt sich das ferne, allmählich näher rückende Schloss mit seinem einsamen Licht. Aus Nebelwolken lösen sich die Umrisse einer Zugbrücke, antikes Gemäuer, eine verfallene Terrasse, tropisch überwuchert. Dann eine Totale vom Schloss: die Türme wie Felszacken, aus spitzbogigem Fenster dringt unverwandt das Licht. Schnitt. Das Fenster groß, Mauerwerk und gotischer Zierrat, das Licht erlischt. Überblendung und Gegenschuss: Im Innenraum liegt ein Körper aufgebahrt. Über alles wischt ein Schneetreiben, aus dem, spielzeugklein, ein verschneites Haus auftaucht. Schnelle Kamerarückfahrt: Das Haus steckt in einer Glaskugel; eine Naheinstellung zeigt: die Kugel liegt in einer Hand. Extremes close-up: Die Lippen eines Mundes, sie formen ein Wort; zu hören ist, geflüstert: „Rosebud“. Die Kugel löst sich von der Hand, tanzt durch die Luft, zerschellt auf einer Steintreppe. Dann, verzerrt, als blicke die Kamera durch die Kugelform einer Glasscherbe, öffnet sich eine Tür, eine Krankenschwester betritt den Raum, sie beugt sich über den aufgebahrten Körper, bedeckt ihn mit einem Tuch. Schnitt: Noch einmal, im Hintergrund, das gotische Fenster. Langsame Abblende.
In Rebusrätseln bilden Dinge, Zeichen, Symbole eine geheime Logik, die der Betrachter mittels Kombination decodieren muss. Hier wird ihm die Auflösung verweigert, erst am Ende des Films erweist sich die Eingangssequenz als seine Päambel. Umgekehrt könnte man sagen: Citizen Kane betreibt Psychoanalyse, der Film arbeitet sich in den nun folgenden fast 120 Minuten an der Deutung eines Traumgeschehens ab. Die Erzählung beginnt mit ihrem Ende, dem Tode Kanes und dem Geheimnis, das er hinterlässt. Das Märchenschloss mitsamt seiner tropisch-gotischen Romantik ist weniger ein Abbild als eine Metapher für Kanes Reichtum, sein megalomanes Anwesen „Xanadu“ – ebenso für die Leere seines Lebens und die Einsamkeit seines Sterbens, die das einzige erleuchtete Fenster signalisiert. Das verschneite Haus evoziert Szenen seiner Kindheit, die Kane heilig ist: eingeschlossen in einer Schneekugel, als sei sie gegen den Rest seines Lebens immunisiert.
Und „Rosebud“ – jenes letzte Wort Kanes, das angeblich nie entschlüsselte Schlüsselwort, wie kam es in den Film? Möglicherweise durch einen Fehler. Niemand konnte ja von diesem Wort wissen, niemand war anwesend, als Kane starb. Ein Mitarbeiter machte Welles nach den Dreharbeiten darauf aufmerksam. Der soll gestutzt und dann geantwortet haben: „Don’t you ever tell anyone of this.“
Dieser Text ist zuerst erschienen in: ray Filmmagazin.
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