Am Anfang blicken wir in das geschwärzte Gesicht eines jungen Mannes, der sich an Bord eines Frachtschiffs aus einer Kohlenkiste herausarbeitet, dann unbeobachtet über Hafenanlagen und Brücken eilt, schließlich in der Tiefe einer Stadt verschwindet. Zur selben Zeit packt ein älterer Mann seinen Koffer, legt Hausschlüssel und Ehering vor den Augen seiner Frau auf den Tisch und verlässt wortlos seine Wohnung. Ein Flüchtling kommt an, ein Bürger steigt aus, beide suchen ein neues Leben.
Beim Betrachten eines Kaurismäki-Films schiebt sich neben die Neugier auf die Geschichte, die der Regisseur uns erzählen will, fast unmerklich eine andere, wenn auch sehr ähnliche Aufmerksamkeit: ein von Bild zu Bild wachsendes Interesse für das, was er uns zu zeigen hat. Die Bilder selbst sind unspektakulär, von ruhiger Einfachheit. Aber sie sprechen mit einer beharrlichen Eindringlichkeit zu uns – so, als wolle Kaurismäki sagen: schaut mal her, so sieht das Stückchen Welt aus, das ich euch zeigen will. Guckt hin. So sieht es aus, wenn ein unfroher Mann in mittleren Jahren seine Frau verlässt. Oder: Hier seht ihr einen Flüchtling, er hat offenbar Strapazen hinter sich, nun kommt er in ein fremdes Land.
Sehr bald erhalten die handelnden Personen in „Toivon tuolla puolen“ (Die andere Seite der Hoffnung, Finnland/Deutschland 2017) einen Namen, wir erfahren einige Einzelheiten aus ihrem Leben und dürfen an ihrem Schicksal teilhaben. Was wir über den Flüchtling Khaled und den Geschäftsmann Wikström erfahren, sind Daten und Fakten, aus denen die Soziologen „Profile“ zusammenstellen würden, um am Ende eine „Typologie“ zu erhalten. Das ist ein didaktisches Verfahren, das sich auch in der Mediengeschichte bewährt hat. Ähnlich haben einst Moritatensänger auf den Dörfern mit ihren Bildtafeln und Versen von den Dingen der Welt, von Gut und Böse berichtet und ihr Publikum aufgefordert, genau hinzusehen und dabei die Moral nicht zu verpassen.
Erstaunlicherweise beschädigt dieser didaktische Blick den Film nicht, vielmehr gewährt er dem Zuschauer eine Distanz zum Gezeigten. Bei Kaurismäki wird wenig gesprochen. Die ruhigen, fast statischen Bilder erlauben uns, Anteil zu nehmen – aber auch über sie zu reflektieren, den sozialen Befund, die Sachlage „hinter den Bildern“ zu überprüfen. Etwas zeigen: Damit begann, vor allem Erzählen, die Geschichte des Kinos. Ohne den Impetus, etwas zu zeigen, kein Attraktionskino. Erstmals wurde unsere bewegte Welt in Bewegtbildern gezeigt: ebendies war um 1900 die große Attraktion. Kaurismäki hat zu Recht ein großes Vertrauen zu dieser ursprünglichen Kinomagie.
Er zeigt uns: Tableaus. Ein Restaurant, das unter dem Druck der Konkurrenz seine Kulissen und Angestellten immer wieder umbauen muss. Einen Straßenmusiker in Helsinki, der seiner Gitarre sehr wilde und sehr herzzerreißende Klänge entlockt. Die Gesichter von Gewinnern und Verlierern, wenn illegal gepokert wird. Und die Gesichter der Menschen, die sich in den Behörden mit dem Flüchtling Khaled befassen, ihn nach den Einzelheiten seiner Flucht aus Aleppo befragen, ihm seine Unterbringung zuweisen und am Ende seinen Asylantrag ablehnen. Kaurismäki denunziert nicht, er entlarvt nicht, und er kritisiert auch nicht, es geht ihm nicht um Psychologie, und die Frage „fiktional oder dokumentarisch“ zählt hier nicht. Kaurismäki zeigt etwas. Wir können die Gesichter betrachten, uns selbst dabei Fragen stellen und über das, was uns gezeigt wird, nachdenken. Der Film lässt uns die Zeit, die wir dafür brauchen.
Dieser Text ist zuerst erschienen in: ray Filmmagazin.
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