Memory Lane

Spuren, die bleiben. Patrick Modianos Buch „Memory Lane“
von Wolfgang Nierlin

Der französische Literaturnobelpreisträger Patrick Modiano umkreist in seinen atmosphärisch dicht geschriebenen Büchern immer wieder dieselben Themen, Stimmungen und Motive. Fast scheint es, als sei der Auslöser dafür ein ganz bestimmtes Erlebnis, das er nie ganz enthüllen kann oder will und deshalb in immer neuen Gestalten und Konstellationen variiert. Dafür taucht er mit mehr oder weniger unscharfen Erinnerungen wiederholt in jene Zeit Mitte der 1960er Jahre ein, als er selbst und seine wechselnden Ich-Erzähler im Alter von etwa zwanzig Jahren unter geheimnisvollen Umständen in die „Anfänge im Leben“ initiiert wurden. Stets werden diese prägenden Jahre eines jungen Mannes von Figuren begleitet, die einer merkwürdig verschworenen, schemenhaften Zwischenwelt abseits der Gesellschaft zu entstammen scheinen.

Das ist auch so in der Geschichte des schmalen Bandes „Memory Lane“, der mit nüchtern-realistischen Zeichnungen des Illustrators Pierre Le-Tan bereits 1981 erschienen ist und jetzt erstmals ins Deutsche übertragen wurde. Das Fahle, Unbewegte und trotz aller Deutlichkeit Abwesende ist in diesen Bildern als eine Art Stillstand der Zeit kongenial wiedergegeben. Die Gegenwart der Dinge und Menschen wird in ihnen zu etwas Abstraktem, weit Entferntem, was sich gut verbindet mit Modianos melancholischer Beschwörung einer verschwommenen, unbestimmten Zeit.

Eigentlich erzählt der Autor in „Memory Lane“ auch keine Geschichte, sondern zeichnet wie nebenbei und betont schmucklos das etwas geraffte und ins teilweise überschwänglich Fabelhafte, gar Phantastische ausgreifende Porträt einer losen Gruppe von Freunden, die sich mit „geheimnisvoller Chemie“ um das halbseidene Ehepaar Paul und Madeleine Contour scharen. Zwielichtige Geschäfte, als undurchsichtige „Waghalsigkeiten“ bezeichnet, schummrige Bars, mondäne Orte mit geschmackvollen Interieurs und die Eleganz einer vergangenen Epoche evozieren eine parallele Welt des Müßiggangs, der Schönheit und des leichtsinnigen Lebens.

Der Ich-Erzähler, der in einem Musikverlag arbeitet und der durch einen Kollegen namens Georges Bellune in den Kreis eingeführt wird, nähert sich als distanzierter Beobachter diesem „Grüppchen“ merkwürdiger Existenzen, deren Charaktere ebenso vage bleiben, wie deren Tätigkeiten undurchsichtig sind. Er wird gewissermaßen zum Ziehsohn Paul Contours, der ihm praktische Rezepte gegen die „Lebensangst“ an die Hand gibt; und er hegt Gefühle für dessen attraktive Frau „Maddy“, lebt sie allerdings nicht aus, was er in der Retrospektive aus einem zeitlichen Abstand von 15 Jahren wehmütig bedauert. Trotz allem Ungefähren und Zufälligen spendet ihm, der als Ich-Erzähler ganz äußerlich bleibt, die Gruppe ein „Gefühl von familiärer Wärme und Stabilität“, ja sie wird für ihn zum „Ausdruck des Lebens“ am Ende seiner Jugend. Als sich die Zeiten ändern und die Gruppe auseinanderfällt, bleiben dem Chronisten nur noch die im Titel adressierten notwendigen Spuren der Erinnerung als Zeichen des Unveränderlichen.

Patrick Modiano: „Memory Lane“. Aus dem Französischen von Elisabeth Edl. Mit Zeichnungen von Pierre Le-Tan. Kampa Verlag, Zürich 2024. 128 Seiten, 20 Euro.