„Wo es nichts gibt, wofür man kämpfen muss, kann man das Kino abschreiben, denn Film ist die Kunst des Widerstands. Das ist ein Naturgesetz“, erklärte Zbyněk Brynych im Herbst 1968 in einem Interview mit dem amerikanischen „International Journal of Politcs“. Der 1927 im tschechoslowakischen Karlovy Vary (Karlsbad) geborene Regisseur hatte gerade seinen Film „Já, Spravedlnost“ („Ich, die Gerechtigkeit“) in die Kinos gebracht. Der Film, der in Deutschland mit einigen Jahren Verzögerung unter dem reißerischen Titel „Als Hitler den Krieg überlebte“ vermarktet worden ist, war nach „Transport z ráje“ („Transport aus dem Paradies“, 1962) und „… a pátý jezdec je strach“ („Der fünfte Reiter ist die Angst“, 1965) der letzte Teil einer losen Trilogie über den Nationalsozialismus und dessen Konsequenzen in der Tschechoslowakei. Und auch der vorerst letzte Film von Brynych in seiner Heimat: Mit der Niederschlagung des Prager Frühlings im August 1968 und dem Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts verließ er wie viele seiner Kollegen das Land. Die Kulturpolitik der folgenden Jahre war geprägt von einer Rückkehr zum Sozialistischen Realismus, nachdem sich tschechoslowakische Künstler in den sechziger Jahren neue Freiheiten erkämpft hatten, die mit der kurzen Amtszeit des Reformers Alexander Dubček im Frühling 1968 auch politischen Ausdruck fanden.
Brynych war Ende der Fünfziger einer der ersten Regisseure, die einen neuen Realismus entwickelten und statt Heldengeschichten den sozialistischen Alltag abbildeten. Sein Debüt „Vorstadtromanze“ von 1958 wurde im Jahr darauf auf staatlichen Druck wieder vom Verleih zurückgezogen, gilt aber dennoch als wegweisend für die Entstehung der tschechoslowakischen Nová Vlna Anfang der Sechziger, der tschechoslowakischen „Neuen Welle“, einer Filmbewegung, die ähnlich wie die französische Nouvelle Vague inhaltlich und ästhetisch nach neuen Wegen suchte. Allerdings waren die gesellschaftlichen Voraussetzungen in der Tschechoslowakei ungleich komplizierter.
Die fünfziger Jahre waren in der Tschechoslowakei geprägt von einer repressiven Politik und Tribunalen gegen ehemalige kommunistische Funktionäre, denen meist Kollaboration mit dem Westen vorgeworfen wurde. Wie Stalins Schauprozesse gegen „wurzellose Kosmopoliten“ hatten sie eine offen antisemitische Tendenz. Während nach dem Tod Stalins 1953 in vielen Ländern des Warschauer Pakts eine Phase der Liberalisierung einsetzte, dauerte es in der Tschechoslowakei noch ein ganzes Jahrzehnt, bis eine politische und kulturelle Öffnung begann. Nun drängten all jene zuvor tabuisierten Themen an die Öffentlichkeit. Neben Alltagssorgen, den negativen und absurden Aspekten des Lebens im Sozialismus, kam auch die jüngste Vergangenheit zur Sprache. Während in den Filmen der fünfziger Jahre, die sich mit dem Nationalsozialismus beschäftigen, tschechische (und sowjetische) Helden und Opfer, Pathos und Widerstandskämpfer dominierten, die Shoah aber so gut wie keine Rolle spielte, wurde die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus bald ein wichtigers Thema in den Filme der Nová Vlna, von denen zwei sogar mit dem Oscar für den besten fremdsprachigen Film ausgezeichnet wurden: „Das Geschäft in der Hauptstraße“ (1966) und “Liebe nach Fahrplan“ (1968). Filme wie „Romeo, Julia und die Finsternis“ von Jiří Weiss, „Diamanten der Nacht“ von Jan Němec, „Dita Saxova“ von Antonín Moskalyk oder „Der Leichenverbrenner“ von Juraj Herz zeigten keine Heldenfiguren, sondern gebrochene Charaktere, Kollaborateure, Alltagsantisemitismus und Deportationen. Fast all diese Filme wurden nach dem Ende des Prager Frühlings 1968 wegen angeblich „zionistischer“ Propaganda verboten und konnten erst nach 1989 wieder in der Tschechoslowakei gezeigt werden.
In diesem politischen und kulturellen Kontext begann Zbyněk Brynych in den frühen Sechzigern an seiner losen Trilogie über den Nationalsozialismus zu arbeiten. Gemeinsam mit dem Autor Arnošt Lustig, der als Jugendlicher Theresienstadt, Auschwitz und Buchenwald überlebt hatte und zu einem wichtigen Wegbegleiter der Regisseure der Nová Vlna wurde, entwickelte er das Drehbuch zu „Transport aus dem Paradies“, der 1962 in die Kinos kam und 1963 als bester Film auf dem Filmfestival in Locarno ausgezeichnet wurde. Der erzählerische Rahmen ist der Besuch des SS-Generals Knecht im Lager Theresienstadt, wo er sich die Dreharbeiten zum Propagandafilm „Der Führer schenkt den Juden eine Stadt“ und die jüdische Selbstverwaltung erklären lässt.
Schon in diesem frühen Film findet Brynych eine Bildsprache, die er in seiner Trilogie immer weiter verfeinern wird: extreme Close-ups auf Gesichter, Hände, Nacken; verzerrte Kameraeinstellungen; dunkle und labyrinthische Settings. In „Transport aus dem Paradies“ ist es ein Lagerraum voller Koffer, die bis zur Decke gestapelt nur schmale Gänge lassen. Irgendwo in diesem Irrgarten hat eine Widerstandsgruppe ein Radio und eine kleine Druckerei versteckt, die schließlich von den Nazis ausgehoben wird. Der Film porträtiert Inhaftierte und zeigt unterschiedliche Weisen, mit der tödlichen Realität des Ghettos umzugehen. Neben zwei sogenannten „Judenältesten“, die zur Kollaboration mit den Nazis genötigt werden, führt Brynych die Mitglieder der Widerstandsgruppe ein sowie Menschen, die ihr Leben für andere opfern, und solche, die egoistisch auf ihren eigenen Vorteil bedacht sind. Jeder geht anders mit der Extremsituation um, stets der Willkür der deutschen Aufseher ausgeliefert und mit dem Tod bedroht zu sein.
„Transport aus dem Paradies“ stellt verschiedene Realitäten gegenüber: Die Realität des Lebens im Lager und jene Realität, die der Propagandafilm über Theresienstadt vorgaukeln will; die kleinen Freiräume, die sich die Inhaftierten zu bewahren versuchen, und die Politik der Deutschen, diese Freiheiten gegen die Juden zu verwenden, wenn sie etwa selbst darüber zu entscheiden haben, wer mit dem nächsten Zug deportiert wird. Die Handlung endet mit dem Bild eines fahrenden Zuges, in dem sich fast alle jüdischen Protagonisten des Films befinden.
Während „Transport aus dem Paradies“ noch recht herkömmlich inszeniert war, merkt man dem zweiten Teil der Trilogie von 1965 die gewachsenen künstlerischen Freiheiten an: „Der fünfte Reiter ist die Angst“ erzählt die Geschichte des jüdischen Arztes Dr. Braun, der mit dem Leben dafür bezahlt, dass er einem angeschossenen Widerstandskämpfer das Leben rettet. Schauplatz ist ein Wohnhaus in Prag; es beherbergt einen Mikrokosmos der tschechoslowakischen Gesellschaft unter deutscher Besatzung: Neben dem Juden, der ins Dachgeschoss abgeschoben ist, finden sich Mitläufer, Verräter und Widerständler, dekadente Neureiche, denen alles egal ist, und Arbeiter, denen jedoch der Heldenmut des Sozialistischen Realismus fehlt.
Braun arbeitet in einer ehemaligen Synagoge, die nun als Lagerraum für den konfiszierten Besitz der deportierten Juden dient. Es ist vor allem die geschickt eingesetzte Kamera, die jene Angst spürbar werden lässt, die der Filmtitel als Motiv vorgibt. Menschenleere Hallen voller Hausrat ermordeter Juden, durch die Braun wandert, während im Hintergrund ein Klavier gestimmt wird, enge Treppenhäuser und die Straßen Prags werden als ausweglose Irrgärten gezeigt, und verstörende Soundeffekte ziehen immer wieder die Aufmerksamkeit auf sich, wodurch der Film mehr und mehr eine Atmosphäre der Paranoia erzeugt, die durch die plötzlich auftauchende Geheimpolizei auch Gestalt erhält. Braun gerät auf der Suche nach Morphium für seinen versteckten Patienten von einem surrealen Setting ins nächste, besucht eine geheime Bar, in der unzählige Menschen trinken und feiern, um die Realität zu vergessen, betritt ein jüdisches Krankenhaus, das nur Verrückte beherbergt, die angesichts der politischen Lage den Verstand verloren haben. Braun bleibt im Finale nur noch die kleine Freiheit, seinem Leben selbst ein Ende zu setzen, statt in die Hände der Staatsmacht zu fallen.
Die Mitarbeiter der Geheimpolizei, die im Haus nach dem untergetauchten Widerstandskämpfer suchen, tragen keine Uniformen, auch das Setting des Films verweist nur subtil auf die Nazibesatzung. Die Botschaft: Der Antisemitismus dauert fort, er kann jederzeit reaktiviert werden, auch im Prag der Nachkriegszeit.
Die Fortdauer des Nationalsozialismus behandelt auch der dritte Teil von Brynychs NS-Trilogie. „Als Hitler den Krieg überlebte“ von 1967 spielt mit der Idee, Hitler habe keinen Selbstmord begangen, sondern sei nach 1945 nur verschwunden. In den düsteren, klaustrophobischen Kellergewölben von Schloss Lilienberg in der Schweiz, einem Privatsanatorium, wird Hitler im Jahr 1946 täglich mit seinen Taten konfrontiert. „Ein Tod für Hitler ist zu wenig, er muss hundert Tode sterben“, erklärt der Direktor des Sanatoriums, Rolf Harting, gegenüber dem Prager Arzt Dr. Josef Heřman. Und so wird Hitler täglich von Schauspielern entführt, die sich als alliierte Soldaten ausgeben und den Deutschen zum Tode verurteilen. Wenn er bereits unter der Guillotine liegt, taucht eine SS-Einheit unter Leitung von Harting auf und befreit ihn. Die täglichen Scheinhinrichtungen stellen jedoch eine lebensbedrohliche nervliche Belastung dar, weswegen Heřman, der Hitlers ehemaligem Arzt und Vertrauten Dr. Wollmann ähnlich sieht, aus Prag entführt wird. Während Heřman sich zunächst weigert, Hitler zu behandeln und darauf besteht, ihn an das Gericht in Nürnberg auszuliefern, wo gerade die Hauptkriegsverbrecherprozesse abgehalten werden, fügt er sich als Gefangener im Sanatorium mehr und mehr in seine Rolle. Wieder inszenieren Kamerafahrten und Close-ups auf den Schweiß des Arztes die Angst und den Stress, nachdem Heřman klargeworden ist, dass er diesen Ort nicht mehr lebendig verlassen wird.
Daneben spinnt im Hintergrund Martin Bormann an einer Verschwörung: Während er bei den Nürnberger Prozessen in Abwesenheit zum Tod durch den Strang verurteilt wird – dass er 1945 Selbstmord begangen hatte, klärte sich erst 1972 –, hat er zur Befreiung Hitlers mehrere Vertraute ins Schloss eingeschleust, angeführt von Inge Stahl, die in der Charade im Sanatorium die Rolle der Geliebten von Hitler spielt. Es kommt zum Showdown, während Heřman Hitler eine Todesspritze gibt und daraufhin von Inge Stahl erschossen wird. Diese wiederum wird zusammen mit den anderen Verschwörern kurz darauf hingerichtet. Der Film endet mit einer Rede Hartings vor einem riesigen Hakenkreuz auf einer Tribüne, die kurz zuvor noch Hitler für seine Ansprachen nutzte, in der er sich in Mimik und Gestik dem einstigen Führer annähert.
Der Film zeige, dass „die Antifaschisten von gestern die Faschisten von morgen“ seien, behauptet das Backcover der deutschen DVD-Fassung des Films. Als Antifaschist wurde Harting jedoch gar nicht eingeführt, vielmehr war er einst ein Vertrauter Hitlers, der mit Kriegsende die Seiten wechselte und nun aus persönlicher Enttäuschung über den verlorenen Krieg am „Führer“ Rache nimmt. Das Ende des Films entspricht der Realität des Jahres 1946: Hitler ist tot und den Deutschen ist auch nach dem Krieg nicht zu trauen, die Faschisten von gestern sind auch die Faschisten von morgen. Inge Stahl erklärt Heřman auf seine ungläubige Frage, warum sie denn Hitler lieben könne: „Wir haben es von klein auf so beigebracht bekommen.“
Mit diesem Film endete Brynychs cineastische Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus. In seinem 1970 in Deutschland gedrehten Film „Die Weibchen“ bietet er eine andere Möglichkeit des Umgangs mit der historischen Schuld der Deutschen: Zumindest die männlichen Deutschen werden darin von feministischen Valerie-Solanas-Fans verspeist.
Dieser Beitrag erschien zuerst in: Jungle World 12/2018