Sommer 2017. In meinem 350-Euro-Anzug stehe ich auf einer Hochzeit, bei der die meisten Anwesenden noch nicht einmal Schuhe für 350 Euro kaufen würden. Ich wünschte, ich würde mich für Golf interessieren und schaue verlegen nach Wolken am Himmel. Meine meteorologischen Kenntnisse lassen es nicht zu, aus Wolkenformen Rückschlüsse auf die Regenwahrscheinlichkeit zu ziehen, nur eines weiß ich genau: Blauer Himmel bedeutet, dass das Regenrisiko gegen null tendiert. Die Perfektion an diesem Ort macht mich ganz unruhig. Griesgrämig streichle ich ein Alpaka. Der Bräutigam hat keine Kosten und Mühen gescheut und zwei von diesen niedlichen Tieren – eins schwarz, eins weiß – zum Knuddeln organisiert. Desinteressiert grasen sie auf der Wiese in der Mitte des sanierten Dreiseitenhofparadieses, auf dem die auf drei Tage angelegte Hochzeit eines Immobilienmaklers und einer Zahnärztin stattfindet. Engelsgleiche Kinder scharen sich um die Tiere und um mich. Es wird gerangelt und schließlich gebe ich dem Druck der Kleinen nach und schließe mich den Erwachsenen beim Scharen um das auserlesene Mittags-Buffet an.
Während ich mich an meinem mit glänzender Seide bezogenen Stehtisch darüber wundere, dass die Dörfer aussterben und die gutbetuchten Städter im selben Atemzug einen romantischen Hang für Hochzeiten auf dem Land entwickelt haben, gesellt sich ein Gruppe zu mir. Wir kommen ins Gespräch. Ein Mann um die 30, die Haare straff nach hinten gegelt, ist Anlageberater bei einer Schweizer Bank. Er erzählt mir, dass er Kunden mit einem Vermögen von 10+ betreut. Mein erstaunter Blick verleitet ihn zu einer Erklärung: „10+, also 10 Millionen Euro aufwärts“. Viele seiner Kunden stammten aus der Türkei und seien verunsichert, ob der politischen Situation im Land. Er rate ihnen deshalb seit geraumer Zeit, Wohnungen in Berlin zu kaufen – dort sei es noch günstig. Eine bessere Anlage für Geld gäbe es derzeit seiner Meinung nach nicht. Ein guter Zeitpunkt das Weite zu suchen, denke ich. Ich proste dem Mann freundlich zu und steuere angetrunken in Richtung Alpakas. Ich bin jetzt verdammt noch einmal dran mit Streicheln.
Auf dem Weg über den saftigsten Rasen der Welt denke ich an mein Wohnviertel und an meine Nachbarn im Haus. Sie leben in London, haben vor einigen Jahren die etwa 100 qm große Wohnung gegenüber meiner gekauft, kommen aber nur an Silvester nach Berlin, weil die Stadt zur Jahreswende so aufregend ist. Ansonsten steht die Bude leer. Die Wohnung unter mir ist ebenfalls fast das gesamte Jahr über leer. Die Besitzer kommen nur in den Sommerferien mit den Kindern aus Süddeutschland nach Berlin, weil die Stadt im Sommer so lebendig ist. Im Hinterhaus wurden in den letzten Jahren einige Wohnungen verkauft, eine davon zu einem Airbnb-Apartment umfunktioniert. Jeden Monat laufen mir im Hausflur Menschen über den Weg, die ich nicht kenne und auch nicht kennenlernen werde. Die Sozialstruktur meines Kiezes hat sich in den letzten 10 Jahren zunehmend homogenisiert. Familien mit dem nötigen Kleingeld kaufen hier schon einmal zwei benachbarte Wohnungen, machen einen Durchbruch und leben dann auf 120 bis 140 Quadratmetern. Am anderen Ende der Skala teilen Familien, die sich keine größere Wohnung leisten können, mit Rigipswänden Zimmer und machen aus 75 Quadratmetern 75 Quadratmeter. Wohnen heißt heute für jene, denen das Geld fehlt, in die Enge getrieben oder verdrängt zu werden.
Der Deutsche Mieterbund geht davon aus, dass pro Jahr circa 80.000 Mietverhältnisse unter Berufung auf Eigenbedarf des Vermieters gekündigt werden. Zwangsräumungen gehören mittlerweile zum Alltag. Zudem ist in den letzten 30 Jahren die Anzahl der Sozialwohnungen deutschlandweit um mehr als eine Million zurückgegangen, etwa 100.000 davon hat allein Berlin zwischen 2001 und 2010 verloren. Im Gegenzug sind die Kaltmieten in der Hauptstadt in den letzten 10 Jahren um etwa 50 % gestiegen. Neben einer Politik, die die Privatisierung kommunaler und öffentlicher Wohnungsbestände vorangetrieben und die Finanzialisierung im Bereich Wohnen nie behindert hat, tragen auch die Prekarisierung des Arbeitsmarktes und die Hartz-IV-Reformen eine Mitschuld an der Misere. Die Konstruktion des Mietspiegels und der Mietpreisbremse zeigen zudem, dass bezahlbarer Wohnraum für alle Schichten der Gesellschaft eine Utopie und die Wohnraumversorgung marktförmig organisiert ist. Ersterer orientiert sich laut §558 BGB nämlich an den Mietpreisen der jeweils neu vermieteten Wohnungen der letzten vier Jahre. Er steigt also schneller als eine Saturn-5-Rakete in den Himmel und legitimiert weitere Preissteigerungen damit noch. Die Mietpreisbremse wiederum greift im Falle von Neubauten oder der Neuvermietung nach einer Modernisierung überhaupt nicht. Darüber hinaus, so hat das gemeinnützige Recherchezentrum „Correctiv“ kürzlich herausgefunden, shoppen Firmengeflechte mit Sitz in Steueroasen fleißig auf dem Berliner und Hamburger Wohnungsmarkt.
Die sich anschließende Frage, für wen die Städte eigentlich sind und wem sie gehören, wenn die Ungleichheit steigt, ein großer Teil der Bevölkerung es sich kaum noch leisten kann, in der Stadt zu leben und auf der anderen Seite Wohnungen einfach ungenutzt bleiben, steht auch im Zentrum von Frederik Gerttens Dokumentarfilm „Push“. Gemeinsam mit der UN-Sonderberichterstatterin für das Menschenrecht auf Wohnen, Leilani Farha, macht sich der Regisseur auf die Suche nach den Ursachen für die sich weltweit zuspitzende Situation am Wohnungsmarkt. In Farhas Heimat Toronto sind die Mietpreise in den vergangenen 30 Jahren um 425 % gestiegen, die Löhne im Vergleich dazu nur um 133 %. Ein Traum für einen ehemaligen Lehrer, der zum richtigen Zeitpunkt auf den Verkauf vom Immobilien umgesattelt hat. Eine Katastrophe für die Anwohner, die mit zwielichtigen Methoden aus ihren Wohnungen vertrieben werden oder mit Kakerlaken leben müssen und in einen Mietstreik treten. Andernorts wird ein Krankenhaus abgerissen, um Platz für Luxuseigentumswohnungen zu schaffen. Die Menschen gehen hier auf die Straße, weil die gesamte Nachbarschaft nach und nach zerstört wird. Ein Barkeeper übt sich derweil in Betroffenheitsironie. Er hat in Vintageshops die Vorboten der Verdrängung ausgemacht und stößt mit seinen Gästen auf das bevorstehende Ende an.
In der allerorts verhassten Gentrifizierung erkennt Regisseur Gertten jedoch nur eines von vielen und vor allem nicht das größte Problem. Stattdessen geht es in „Push“ um die Systematik der Veränderung, denn auf der ganzen Welt vollzieht sie sich auf die gleiche Art und Weise: Investmentgesellschaften kaufen Immobilien, sanieren aufwendig, die bisherigen Bewohner ziehen aus, weil sie sich die Mieten nicht mehr leisten können, und die Häuser und Wohnungen werden zu Spekulationsobjekten in allerbester Wohnlage. Die Städte, so Leilani Farhas Schluss, werden zunehmend unbewohnbar. Zum Beweis führt ein Mann in London durch leere Straßen, auf denen nur deshalb keine Autos fahren, weil in den umliegenden luxuriösen Häusern niemand lebt. Bereits in „Let’s make money“ (AUS 2008) von Erwin Wagenhofer gab es verlassene Hotelkomplexe und Wohnanlagen mit regelmäßig bewässerten Golfplätzen zu besichtigen. Wie damals geht es auch in „Push“ wieder um Rentenfonds, strukturelle Verantwortungslosigkeit und steigende Profitraten. Schienen die gespenstischen Orte in „Let’s make money“ in ihrer Surrealität sowie der distanzierten und wie in einer Schockstarre verharrenden Inszenierung aber noch weit entfernt, als hätten sie nichts mit unserem Leben zu tun, so rückt das Problem in „Push“ dem Publikum drängender zu Leibe, weil Gertten die Betroffenen zu Wort kommen und von Verlust, Ausweglosigkeit und Abgehängtsein berichten lässt.
In einer mittlerweile zum Standard des globalen Dokumentarfilms geronnenen Routine tourt der Film mit seiner Protagonistin von Toronto über London, Berlin, Chile, Mailand und Barcelona nach Südkorea. Dass dies in „Push“ halbwegs funktioniert, liegt neben der Tatsache, dass das Thema Wohnen derzeit bei den meisten Zuschauer*innen auf fruchtbaren Boden fallen dürfte, an der straffen Miles-and-more-Montage. Dramaturgisch gut dosiert entfaltet sie die Zusammenhänge, streut zum richtigen Zeitpunkt knackige Expertenphrasen ein und saust dann in Windeseile weiter um den Erdball. Aufgekratzt bleibt man dicht an der Erzählung, die Hände zu Fäusten geballt. „Push“ will ein informativer, aufrüttelnder Film sein. Doch tun sich schnell die üblichen Abgründe einer von Ausrufungszeichen vorangetriebenen Stakkato-Erzählung auf. Personen werden eingeführt und halbherzig begleitet. Einige werden zu den typischen Funktionsträgern, andere tauchen nach vielen Minuten und diversen Ortswechseln unvermittelt wieder auf und es bleibt offen, warum sie überhaupt im Film ihren Platz gefunden haben. Genaue Ausführungen oder tiefgehende Analysen sind in der Hektik nahezu unmöglich. Viele Aspekte, wie zum Beispiel die wachsende Zahl wohnungsloser Student*innen, Nachverdichtung von Wohnraum, die Tiny-House-Bewegung, Mikroapartments oder die Sargwohnungen Hong Kongs bleiben ganz außen vor. Das Gefühl umfassender Informiertheit, das tatsächlich Ausgangspunkt für eine weiterführende Diskussion nach dem Film sein könnte, kommt so nie auf. Die unzähligen Zwischenschnitte illustrieren dies eindrücklich: Sie halten das Tempo hoch, bewegen sich aber häufig an der Grenze zur Beliebigkeit, zu der sich die auf Mitleid und Spionage abgerichtete Musik gesellt.
Die Inszenierung zeigt, dass im Vordergrund von „Push“ die unnötige Emotionalisierung des Publikums steht. Im Hintergrund wird währenddessen ein gesichtsloser Gegner aufgebaut. Übergroß, unmenschlich und unnahbar formt sich dieser symbolische Goliath, wird zum Platzhalter für viele Unternehmen, die Wohnen als moralbefreiten Raum begreifen, und im Film als Abfalleimer für allerlei angestaute Gefühle der Zuschauer*innen dienen. Die Protagonistin Leilani Farah gibt sich mit ihrem Rollkoffer redlich Mühe, dem Giganten näherzukommen. Ein Projekt mit dem Namen „The Shift“, das einen Paradigmenwechsel vom Wohnen für Profite hin zum Wohnen für Menschen im Sinn hat, wird in Stellung gebracht. Wie genau ebenjener Shift erreicht werden soll, erschließt sich in der zweiten Hälfte des Filmes allerdings nicht so recht, weshalb der Schluss äußert unvermittelt über die Zuschauer*innen hereinbricht: Am Konferenztisch klatschen einige Bürgermeister*innen hoffnungsvoll in die Hände, Leilani Farha lächelt, sagt, dass wir an einem Wendepunkt stünden und stößt mit ihrer neuen Kollegin zaghaft auf die Zukunft von „The Shift“ an. Es fehlen „Push“ spätestens jetzt Menschen, die ernstzunehmende Wege aufzeigen, wie der entfesselte und den Regeln der ökonomischen Knappheitslogik folgende Wohnungsmarkt, in die Schranken zu weisen wäre, gerade weil Wohnen die neue soziale Frage und Ausdruck der stetig wachsenden Ungleichheit geworden ist und der massive Reichtum Einiger die Gesellschaft sowie die demokratischen Strukturen als Ganzes bedroht.
Noch einmal Sommer 2017: Als ich die Alpakas für mich allein habe, weil die Blumenkinder zum Essen gerufen werden, komme ich ins Gespräch mit dem Besitzer der Tiere. Matze, ein Mann um die 60, schwarze Lederweste, schwarzer Cowboyhut, den grauen Kinnbart zu einem dünnen Zopf geflochten, erzählt mir, dass er irgendwann die Schnauze voll gehabt hätte, in die Anden gefahren und dort auf Alpaka-Herden gestoßen sei. Zurück in Deutschland habe der dann endgültig alles hingeschmissen und eine eigene Alpaka-Farm eröffnet. In seinem Schnurrbart hat sich ein Faden Tabak von einer Selbstgedrehten verfangen und wippt bei jedem Satz auf und ab. Ich sage nichts, frage nur, ob die Tiere sich das gefallen lassen würden, den Lärm der Kinder, die Blitzlichter, das ständige Angetatsche. Eigentlich nicht, meint Matze. Diese beiden Exemplare seien nur weniger eigensinnig, weshalb er sie ein wenig erzogen habe. Das funktioniere letztlich wie bei vielen Zuchttieren. Man zeige denen, wo es langgeht und nicht umgekehrt, dann passe das schon. „Macht ist die Antwort auf die Frage, wer wen bewegt“, sage ich spontan in Anlehnung an einen Satz aus einem (in doppelter Hinsicht erfundenen) Ratgeber in Juli Zehs Roman „Unterleuten“. Matze nickt. Jubelschreie, Pfiffe und Klatschen erfüllen den Hof. Soeben wurde die 1,50 Meter hohe Torte angeschnitten. Ein Alpaka schiebt mich mit der Schnauze zur Seite. Aber sanft.