Ein Sachverhalt, den ich bei der Premiere meiner neuen Buchpräsentation zwar kurz gestreift, aber nicht weiter ausformuliert habe, ist der Zusammenhang von Kino und der Umgebung, in der es stattfindet. Ich befasse mich ja nun schon seit längerer Zeit damit, in Filme hineinzukriechen und nachzuschauen, was da so ist. An der Uni hatte es mir die werkimmanente Analyse besonders angetan. Dort bezog sich das auf Texte, wurde später aber auf Leinwandwerke erweitert. Und wie es an akademischen Lehranstalten Leute gibt, die die Klassiker persönlichen Bewertungen unterziehen und einem ganz genau sagen wollen, was ein wirklich gut geschriebenes Buch ausmacht, so gibt es auch auf dem Filmsektor eine Vielzahl von Nervbüddeln, die die Deutungshoheit im Hinblick auf die jeweiligen Kunstwerke für sich in Anspruch nehmen. Tja. Das führt häufig zu Wortgebilden, in denen ich mich selbst nicht wiederfinden kann. Was schade ist, denn die Liebe zum Kino ist ja zunächst einmal eine sehr persönliche Angelegenheit.
Niemand, der eine bestimmte Person liebt und bei Sinnen ist (obwohl Liebe und bei Sinnen sein einander eigentlich ausschließt, aber egal!), wird ihr etwa den perfekten Neigungswinkel einer Nase verklickern wollen. Oder die Anzahl von Sommersprossen, die im Idealfall jede Seite eines Gesichtes zieren sollte, um es nicht zur Asymmetrie und somit zum Absturz zu bringen. Das wäre ja nun völlig beknackt! Manchmal ist es gerade der Regelverstoß, der einem prima gefällt. Und ja, in der Regel sollte man erst einmal die Regeln kennen und befolgen können, bevor man lustvoll gegen sie verstößt. So funktioniert Anarchie, und Liebe ist Anarchie. Man sollte aus dem Umstand, dass ich Bücher über Quasimodo-Filme geschrieben habe, nicht ableiten, dass ich mich ausschließlich für solche Filme begeistere, also quasi einem Buckelfetisch anhänge. Dem ist nicht so. Wohl aber setzt sich Kino aus vielen kleinen Dingen zusammen, die ein entweder erfreuliches oder ernüchterndes Gesamterlebnis bilden.
Da wäre zunächst einmal die Erwartungshaltung. Ich las in einer Amazon-Kritik einmal, dass Luis Bunuels „Der Würgeengel“ als Kriminalfilm komplett misslungen sei. Dem stimme ich zu, nur stellt es schon eine gewisse Kunst dar, ein Werk des spanischen Surrealisten für einen Krimi zu halten. So gesehen ist „Citizen Kane“ ein wenig zufriedenstellender Western, und Bergmans „Das siebente Siegel“ ist als Porno auch nur bedingt zu empfehlen. Bei Kritikern reicht es schon, wenn sie sich morgens den Po auf der Klobrille verkühlt haben. Wenn die Feen sich nicht über den Tag gebeugt haben, macht einem das so manche Kunst madig. Auch der Umstand, dass der Beziehungspartner wieder einmal Mist gebaut hat, die dumme Nuss, kann sich negativ auswirken auf etwa eine bezaubernde Liebesgeschichte. Die zündet dann nämlich nicht mehr so richtig.
Ebenfalls nicht zu unterschätzen ist auch die Perspektive, die der Betrachter einnimmt. Manch ein gelehrter Kopf weiß nämlich ganz genau, was sich ein Künstler bei seinem Werk gedacht hat. Da werden Textstellen von jahrzehntealten Einkaufszetteln als Beleg gewertet für die seelische Komplettverwurmung, der sich Künstler X zum fraglichen Zeitpunkt ausgesetzt sah. Mal abgesehen davon, dass das akademische Empathiewunder sich bei seiner Diagnose möglicherweise ganz einfach geirrt hat – wen interessiert das schon? Kino besteht aus überaus konkreten visuellen wie akustischen Sinneseindrücken, die aber von jedem Zuschauer auf Gottes grüner Erde unterschiedlich verarbeitet werden. Auf der Leinwand spielt sich der Film ab, in den die Fantasien des Künstlers eingesperrt sind. Diese verbünden sich mit den privaten Verhexungen der Zuschauer. Das funktioniert eben oder führt zu völliger Verständnislosigkeit. Wobei auch Filmerlebnisse, die völlige Verständnislosigkeit verursachen, sehr bereichernd sein können, denn sie fördern unter Umständen die geistige Geschmeidigkeit. Oder man kann sich zumindest hübsch drüber ärgern und ist danach ausgeglichen. Welcher Teufel einen möglicherweise bereits seit Jahrhunderten toten Künstler ritt, als er ein Bild malte, ist mir völlig wumpe. Als vorbildlich möchte ich die Vorgehensweise von Bunuel und Dali bezeichnen, die bei „Der andalusische Hund“ jedes Bild, das eine sinnvolle Assoziation zum vorangegangenen zu besitzen schien, einfach hinauswarfen. Sie wollten keine Deutung ihres Filmes, der widersetzten sie sich nachdrücklich. Ebenso weigert sich David Lynch standhaft, Audiokommentare zu seinen Filmen zu erstellen. Das wäre meines Erachtens auch völlig gaga, denn man würde sie somit ihrer Vielschichtigkeit berauben, sie ohne Not reduzieren.
Film ist für mich das, was man auf der Leinwand sieht, Formen, Farben und Töne. Manchmal kommt noch eine Geschichte hinzu. Von Bedeutung ist das alles, wenn es mich persönlich anspricht, nicht Herbert, nicht Jutta, sondern mich. Es kann durchaus wichtig sein für die Filmrezeption, ob mir Jutta am Ohr geknabbert oder Herbert mir aufs Maul gehauen hat. Manche Filme üben eine nostalgische Wirkung auf einen aus, sind wie eine Zeitmaschine. Man verbindet sie dann mit Menschen, die einem wichtig waren. Manchmal können Filme sogar in einen eindringen und einen verändern, einen etwa von einer schwierigen Lebenssituation in eine weniger umkriselte hineinführen. Man wird dann positiv videodromisiert. Das alles führt natürlich dazu, dass man niemals allzu ingrimmig über Kino streiten sollte. Der eine schätzt dieses, die andere jenes. Manches Kino bedient die apollinische Seite in einem, das andere eher die dionysische. Beides gut, beides wünschenswert, alles Kino! Mir wird Kino niemals wichtiger sein als das wirkliche Leben. Das habe ich gerade bei meiner Lesung in Hagen wieder erlebt. Mir hat da niemand am Ohr geknabbert oder aufs Maul gehauen, aber es fließt alles miteinander zusammen, die Strapazen, aber auch die Schönheit. Deshalb schätze ich die Herangehensweise von Buio Omega auch über alle Maßen, die Film in einem liebevollen Rahmen im Kreise Gleichgesinnter präsentieren, der von hübscher Verpackung, von Musik und hernach von kulinarischen Genüssen ergänzt wird. Das ganze Erlebnis ist dann Kino und eben etwas ganz anderes, als sich die Racker allein vor dem Fernsehschirm zu Gemüte zu führen.
Wenn man Kino lediglich als Befriedigungslieferant begreift, um die Löcher zu stopfen, die sich gelegentlich in einem auftun, dann reduziert man es. Im Idealfall wühlt es einen auf, es geht mit einem um. Es verbindet sich mit einem. Die bemerkenswerteste Leinwand ist das eigene Leben, und bei der Gestaltung hat kein Produktionsleiter das Recht, einem hineinzupfuschen. Man darf Kapriolen treiben, Regelverstöße sonder Zahl, auf die Zuschauererwartung darf man pfeifen. Das Recht auf den Endschnitt besitzt man selbst. Und was die Kritiker sagen, das ist völlig unerheblich. Hauptsache, man hat Spaß!