Diese Bilder dürfen sich nicht wiederholen, sagen Politiker gern. Sie betreiben Geisterbeschwörung. Sie meinen nicht die Bilder, sondern das, was sie zeigen: Flüchtlingsströme, zertrümmerte Städte, Tote nach einem Terroranschlag. Kommentatoren behaupten oft von denselben Aufnahmen, sie hätten sich „dem kollektiven Gedächtnis eingebrannt“. Auch das ist Geisterbeschwörung, denn in der Regel haben sie sich in den Bilderkatarakten der elektronischen Medien längst verflüchtigt. Der Kinofilm, soweit er sich noch gegen den Mainstream unserer audiovisuellen Grundversorgung behaupten kann, versucht, der allgemeinen Entwertung der Bilder etwas Wesentliches entgegenzusetzen: den Anspruch, im Bewegtbild ein momentum festzuhalten, der Oberfläche des Sichtbaren so etwas wie Tiefe (des Innewerdens, auch des Erschreckens) zu verleihen.
Dies leistet der Film „Die letzten Männer von Aleppo“ von Firas Fayyad und Steen Johannessen, eine syrisch-dänisch-deutsche Koproduktion, die auf dem Sundance Film Festival im Januar 2017 mit dem Großen Preis in der Kategorie „World Cinema Documentary“ ausgezeichnet wurde. Als der Film im Sommer in einige kommunale Kinos kam und von arte gesendet wurde, stieß er auf viel Lob, aber auch auf Einwände: Die syrische Zivilschutzorganisation der „Weißhelme“, deren Rettungsaktionen während der Dauerbombardements auf Aleppo hier dokumentiert werden, sei keine neutrale Organisation, sondern Teil der dschihadistischen, angeblich von den USA unterstützten Opposition. Überdies verstärke der Film mit seinen Aufnahmen von permanent drohender Lebensgefahr, Panik und Tod, mit der extremen Nähe der Kamera zu den Akteuren seine Wirkung zusätzlich durch emotionalisierende musikalische Effekte. Die politisch-ideologische wie die ästhetische Kritik lancieren – sehr durchsichtig – den bösen Verdacht, es handle sich um eine zwischen cinéma vérité und Actionfilm oszillierende Hollywood-Produktion.
Dem ist nicht so. „Die letzten Männer von Aleppo“ ist eine Reportage von enormer Kraft, deren Bilder bis an die Grenze des Erträglichen gehen. Gegen die Info-Fetzen der TV-Nachrichten, gegen den bunten Bilderkonsumnebel in unseren Köpfen setzt dieser Film auf Intensität und Genauigkeit. Keine Bewegung entgeht den Kameraleuten des Aleppo Media Center, wenn die Weißhelme mit Baggern, Schaufeln und den eigenen Händen Leichen und Körperteile aus den Trümmern eines zerbombten Hauses herausschälen. Ein kleiner Junge hat überlebt: die Retter arbeiten behutsam, mit chirurgischer Präzision, als holten sie das Kind nicht aus Schutt, rieselndem Staub und geborstenen Steinplatten, sondern aus dem Mutterleib hervor. Immer wieder: der Blick zum Himmel, zu den mal kreisenden, mal plötzlich heranstürzenden Kampfjets von Bashar al-Assad. Und die Ruhepausen: Bilder, die gelesen sein wollen, die zwischen dem realen Albtraum und einer zweiten Wirklichkeit schweben.
Eine Sequenz zeigt Khaled, den Protagonisten, schlafend auf seiner Pritsche, dann bildfüllend das Aquarium mit den Zierfischen, die er hegt und pflegt und in den wenigen freien Minuten umsorgt. Die Kamera zieht weit auf, wir sehen nun: das Aquarium steht auf einem Stuhl, in einem leeren zerstörten Zimmer, rundum Trümmer. Langsame Schwenks über aufgerissene Fassaden, Fensterhöhlen. Panorama aus der Vogelsicht: ein großer Platz im zerstörten Aleppo, menschenleer, umstanden von Hochhausruinen. Ein rätselhaftes Bild zeigt ein Mosaik aus blauen quadratischen Steinen, umgeben von Kreisen, eingebettet in eine Ruinenlandschaft, die sich bis zum Horizont erstreckt. „Wo ist die Welt?“ fragt einer der Retter im Film. Die Welt ist kaputt.