Es geht hoch her am Set, Leute in weißen Kitteln (Berufskleidung der Techniker in den frühen Jahren der Kinematografie) rennen hin und her, Kulissen stehen herum und meist im Wege, viel Technik, viel Pappmaché, viel Nervosität. Eine Aufnahme wird vorbereitet. Das junge Medium, das sich gerade erst selbst entdeckt, will seinen Zuschauern zeigen, wie es funktioniert. Und welchen Zwängen es ausgesetzt ist. Es gibt ein Problem. Zwei Männer im Vordergrund, Regisseur und Produktionsleiter, beugen sich über einen Brief: Der weibliche Star, Ruth Breton, lehnt das Drehbuch ab – es reiche bei weitem nicht an die Standards heran, die ihrem Talent, ihrer Reputation angemessen seien. Was tun?
So könnte ein Stummfilm der frühen 1910er Jahre beginnen – gäbe es ihn denn. Dabei gibt es ihn ja – und es gibt ihn auch wieder nicht. Schattenhaft geistern so viele „lost films“ durch die frühen Jahre, verschollene Werke, von denen wir wenig oder gar nichts wissen, und viele andere, deren Titel nur dank der Zensurkarten überliefert sind. Und es gibt solche, die uns außer ein paar Daten, außer den Zeugnissen ihres Ruhms einige Zelluloidtrümmer hinterlassen haben: heilige Relikte ihrer materiellen Existenz, Bruchstücke einer Zerstörungsgeschichte, Fragmente, die sich widerborstig gegen das komplette Verschwinden gewehrt haben.
Ein solcher Fall ist Die Filmprimadonna (Regie: Urban Gad, Deutschland 1913). Geniale Restauratoren und kundige Kuratoren des George Eastman House in Rochester und des Niederländischen Filmmuseums in Amsterdam haben die wieder aufgefundenen Materialreste aus dem ersten Akt zu einem halbwegs kohärenten Stückchen Film (278 von insgesamt 1429 Metern, knapp 16 Minuten der ehemaligen Feature-Länge) zusammengefriemelt. Daraus wurde ein Juwel der Filmgeschichte, zugleich ein Mahnmal ihrer Verletzlichkeit. Film im Film: Ruth Breton studiert und verwirft schon beim Frühstück Drehbücher, dirigiert im Studio die Schauspielkollegen, erteilt Anweisungen an die Kamera, marschiert ins Kopierwerk und schaltet sich im Direktionsbüro in Besetzungsfragen ein. Die Story wird, unvermeidlich im frühen Stummfilm, in eine Liebestragödie münden, aber der Star unterwandert alle Klischees. Der Star ist Asta Nielsen – und Asta Nielsen spielt sich selbst: ihre Obsession fürs Kino und ihre Rebellion gegen die Kinoindustrie. In ihren Filmen stehen die Zeichen auf Kampf – Kampf um Autorschaft, nein: um die Alleinherrschaft über die Stoffe, die Rollen, das Studio – über das ganze Lebenswerk.
Die schönste der erhaltenen Szenen spielt im Labor. Wenn sich Asta im magischen Rotlicht der Dunkelkammer in den Zauber der Filmentwicklung vertieft, das Negativ einer Sequenz kritisch beäugt, mit den Technikern diskutiert, plötzlich verschwindet und ebenso plötzlich im Trockenraum wieder auftaucht, sich einen Streifen greift, ihn gegen das Licht hält, entsetzt die Augen aufreißt – Kopfschütteln, wilde Gesten, etwas stimmt nicht, die Szene ist missraten! – wenn sie aufgeregt, mehr noch: empört ihre Augen Blitze schleudern lässt, ihr Partner sie zu beruhigen sucht doch ihre herrische Geste sagt: So geht es nicht! Die Frisur ist falsch! – wenn sie sich umdreht, nach dem Sünder sucht, sich einen Techniker schnappt und an seinem Kittel zerrt, den ratlosen Mann gefährlich anfunkelt, erregt auf den Filmstreifen zeigt, an ihre Stirn tippt, auf den Partner einredet, dem Techniker das Zelluloid aus der Hand reißt, es ihm zornentbrannt zurück gibt und schließlich aus dem Raum rauscht – dann ist das, selbstverständlich, „großes Kino“, aber noch viel mehr: es ist eine brillante Performance medialer Selbstreferentialität und heute, hundert Jahre später, noch in seiner digitalisierten Gestalt ein Fest der analogen Kinematografie.
Dieser Text ist zuerst erschienen in: ray Filmmagazin.
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