„Was denkt der Kinoliebhaber über die anderen Künste?“ Zwischen den Monaten Februar und Dezember des Jahres 1955 erscheint in der französischen Filmzeitschrift Cahiers du Cinéma unter dem Titel „Zelluloid und Marmor“ ein filmtheoretischer Aufsatz, der diese Frage zu beantworten sucht. Ihr leidenschaftlicher Verfasser ist der 1920 in Tulle geborene, umfassend gebildete Autor und Filmenthusiast Maurice Schérer, der seinen fünfteiligen Essay mit dem Pseudonym Éric Rohmer zeichnet. Die „Großartigkeit des Kinos“ als primäre Kunst der Gegenwart und in Abgrenzung zu den traditionellen anderen Künsten zu zeigen, macht sich darin der cinephile Autor ebenso entschieden wie nachdrücklich zur Aufgabe. Als Stammgast der Cinémathèque française, wo er zusammen mit seinen Freunden und Kollegen Jean-Luc Godard, Jacques Rivette, François Truffaut und Claude Chabrol die „führende Rolle“ der Filmkunst entdeckt, wächst bei ihm zugleich das Bedürfnis, gegenüber den „Kinoverächtern“ die ästhetische Eigenständigkeit der noch jungen Kunstform zu verteidigen.
Heute gilt „Zelluloid und Marmor“ als „wichtigster filmtheoretischer Grundlagentext der Nouvelle Vague“ und als Manifest der mit ihr assoziierten Filmemacher, wie der Übersetzer und Filmpublizist Marcus Seibert in seinem Nachwort zur deutschen Ausgabe schreibt. Bereits 1963 sollte der Text zusammen mit anderen Aufsätzen unter dem Titel „Das klassische Zeitalter des Films“ veröffentlicht werden. Doch weil der Verleger Dominique de Roux starb, kam das Projekt nicht zustande. Rohmers selbstkritisches Vorwort von damals eröffnet nun die Aufsatzfolge zu Literatur, Malerei, Dichtung, Musik und Architektur, die als Buchausgabe in Frankreich kurz nach dem Tod des Regisseurs im Jahre 2010 erschien. Ein paar Monate zuvor konnten die beiden Herausgeber Noël Herpe und Philippe Fauvel noch umfangreiche Gespräche mit Éric Rohmer führen, in denen dieser höchst lebendig und geistreich seine damalige, nicht immer leicht nachzuvollziehende Position reflektiert, in den historischen Kontext einordnet und mit vielen Beispielen aus seinem reichen Erfahrungsschatz veranschaulicht. Diese komplettieren und ergänzen nun die auf Deutsch vorliegende Edition.
„Nun müsste man aber nicht zeigen, dass der Film eine andere Sprache spricht, sondern dass er etwas anderes sagt, das auszudrücken wir bislang nicht einmal zu träumen wagten“, beginnt Rohmer seine polemische Verteidigungsrede, mit der er stellvertretend für den „anderen Blick“ einer neuen Generation von Cinephilen spricht. In diesem doppelten „Anderen“ verbindet sich das klassische Erbe der Literatur mit der Modernität des neuen Mediums, dessen hervorragendes Merkmal der Realismus des fotografischen Bildes ist. Éric Rohmer bezieht sich hier in seinem späteren Vorwort dezidiert auf die filmästhetischen Überlegungen des Theoretikers André Bazin zum „Mythos eines allumfassenden Realismus“. In dieser Perspektive erscheint der Film als eine „objektive Kunst“ und, so Bazin, als „Vollendung der photographischen Objektivität in der Zeit.“ In diesem Sinne schreibt Éric Rohmer über die „Zeitkunst“ Film: „Die Wirklichkeit einzufangen und zu bewahren ist ihr einzigartiges und bescheidenes Ziel.“
Mit Blick auf die filmischen Meisterwerke seiner erklärten Vorbilder Griffith, Murnau, Renoir und Hawks betont der spätere Autorenfilmer und Regisseur der Filmzyklen „Moralische Erzählungen“ und „Komödien und Sprichwörter“ aber auch, dass der Film sich nicht im dokumentarischen Gestus oder einem „Hunger nach Authentizität“ erschöpfe. Vielmehr nehme er auf eine nur ihm mögliche, gewissermaßen wesensspezifische Weise diese Realität wahr und stelle so „die Schönheit des Lebens selbst“ dar. Vor allem in der Auseinandersetzung mit der Abbildungsfunktion der Malerei sowie mit der durch ihre raum-zeitliche Dimension wesensverwandten Musik gelangt Rohmer, der mit den philosophischen Ästhetiken von Kant und Hegel vertraut ist, zum metaphysischen Begriff einer „Schönheit sui generis“, „die als integraler Bestandteil der Welt von Anbeginn an vorhanden war und nur auf das Instrument gewartet hat, das sie für die Menschen zum Vorschein bringt.“
Zwar bewundert Rohmer die Natürlichkeit und Lebendigkeit einer Romankunst, die für ihn im 19. Jahrhundert ihre Blütezeit hatte, sowie eine unzeitgemäß gewordene Poesie, deren Verse er bevorzugt auswendig rezitiert; doch nur dem filmischen Ausdruck gelinge es, jenseits des metaphorischen Sprechens oder der symbolischen Darstellung jene „prästabilierte Harmonie“ zu evozieren, die die „Existenz der Seele oder eines anderen spirituellen Prinzips“ bezeuge. Éric Rohmer geht es in „Zelluloid und Marmor“ also um nichts weniger als um die Rettung und Erneuerung des klassischen Schönheitsideals im modernen Medium des Films. Das bezeugt schließlich auch sein eigenes, umfangreiches filmkünstlerisches Œuvre, das mit seiner „Magie“ den „geheimen Gesang der Welt“ wecken will.
Éric Rohmer: „Zelluloid und Marmor“.
Herausgegeben von Noël Herpe und Philippe Fauvel. Aus dem Französischen und mit einem Nachwort von Marcus Seibert. Alexander Verlag Berlin, 2017. 192 Seiten, 28 Euro