Die Matrix hat den Blick auf die Apparatur des Spektakels geschärft. Unter der Oberfläche sieht es finster und unwirtlich aus, wie eine Erweiterung des Kinoapparats auf der Leinwand: Vorne versorgt er uns mit bunten Bildern und Illusionen, während im Inneren des Gebäudes die Projektionsgeräte geräuschvoll die Bilder produzieren. Es war auch das überzeugendste Bild, das “The Matrix” vor vier Jahren im Bewusstsein des Kinogängers plazierte: in schwarze Schluchten abfallende Lagertürme menschlicher “Batterien”, in einer desolaten Nachkriegslandschaft. Ein gigantischer Parkplatz für “Human Resources”. Der Mensch existiert in diesem System nur noch, um in seiner Versklavung die Simulation einer materiellen (und materialistischen) Realität aufrechtzuerhalten. Die Wahl zwischen Simulation und Desolation reduziert sich auf die Wahl der richtigen Farbe: blaue Pille oder rote Pille? Willkommen in der Wüste des Realen!
Das Erfrischende an “The Matrix” war – trotz seiner messianischen Erweckungsbotschaft – der unumstößliche Nihilismus, der sich in einem schweren Paradoxon auflöste. Nicht mehr die idealtypische Wirklichkeit, den utopischen Ort, an dem das menschliche Begehren sich manifestiert, galt es zu bewahren (dieser “Ort” ist längst zum “Großen Anderen” mutiert); es galt, sich mit der realen Verheerung bestmöglich zu arrangieren – ein Topos, das im gegenwärtigen Science Fiction-Film (zuletzt “Die Herrschaft des Feuers”) häufiger anzutreffen ist. Utopia und Dystopia sind ununterscheidbar geworden, aufgelöst in einer fantastischen Möglichkeitspalette von Schein- und Hyperwirklichkeiten.
Dieser kategorische Konjunktiv verschaffte den Wachowski-Brüdern, die vor vier Jahren die “Matrix”-Trilogie aus jenem kruden Gemisch aus Superhelden-Mythologie, Videospiel-Ästhetik, Hongkongs Bloodshed-Filmen, Techno-Gnosis und Vulgär-Philosophie geschaffen hatten, eine Fülle von inhaltlichen Anschlüssen, die gleich für eine ganze Trilogie gereicht haben. Der Ende Mai gestartete “The Matrix Reloaded” (der Abschluss folgt im November 2003 mit “The Matrix Revolutions”) muss mit dieser Materialübersättigung, narrativ wie intellektuell, erst einmal zurechtkommen. Die Zweifel an dieser gewaltigen Aufgabe sind seinem Superhelden bereits eingeschrieben, wenn Neo (Keanu Reeves) sich gleich in den ersten Minuten des Films fragt, was das ganze Theater um Erlösung und Heilsbringertum eigentlich soll. Die Frage hat hier natürlich voll und ganz ihre Berechtigung, aber natürlich ist kein Zuschauer mehr fähig, sie nach dem intensiven medialen Bombardement noch laut auszusprechen. Wie eine Matrix hat sich der Marketing-Apparat (dessen effizienteste ‘Drone’ ein High End-Videospiel ist, das so manchen Hollywood-Blockbuster in puncto Technik deklassiert) über unsere Wahrnehmungssynapsen gelegt. That`s Entertainment!
Was aber ein echter Fan ist, der lässt sich von solchen Nebensächlichkeiten nicht abschrecken. Das Sequel schafft es erneut spielerisch, zwischen Popcorn- und geisteswissenschaftlicher Fraktion zu vermitteln. Und Larry und Andy Wachowski haben sich noch genug Hintertüren offen gelassen, um nicht allzu früh in ihrem eigenen mythologischen Käfig zugrunde zu gehen. Mit platinblonden Dreadlock-Zwillingen, einer saftigen (sic!) Liebesgeschichte zwischen Neo und Trinity (Carrie-Ann Moss) und jeder Menge attraktiver afro-amerikanischer Freiheitskämpfer beiderlei Geschlechts (im Kontrast zum ausgesprochen ‚weißen‘ Brother-against-Brother/Nu Metal-Soundtrack) haben die Brüder genug Nebenfährten für ein angemessenes Finale gelegt. Obwohl in Sachen Action mit der spektakulären, 15-minütigen Highway-Verfolgungsjagd wahrscheinlich alles erreicht worden ist, was Storyboard und Digitaltechnik heutzutage möglich machen. Das Thema ‚Technologie‘ ist dann wohl auch der einzige Punkt, an dem ein Film wie “The Matrix Reloaded” überhaupt noch angreifbar wird.
‚Kontrolle,‘ sagt Haman, so etwas wie der Stadtrat von Zion, der Unterwasserzuflucht der letzten Menschen vor den feindlichen Maschinen, und lässt den Blick über die eigenen Maschinen, die Zion vor der Außenwelt schützen, streifen, ‚Kontrolle ist das Schlüsselwort. Was heißt Kontrolle?‘ Um den tieferen Sinn dieser Frage zu verstehen, muss man sich nochmal in Erinnerung rufen, dass zwischen ‚The Matrix‘ und seinem Sequel das Selbstwertgefühl Amerikas gehörig in Mitleidenschaft gezogen wurde (9/11 und Folgen). Kontrolle ist der Schlüsselbegriff, der den Subtext von ‚The Matrix Reloaded‘ heller noch als seinen Vorgänger illuminiert. Denn von Beginn an ist die ‚Matrix‘-Trilogie der Brüder Wachowski vor allem ein epischer Paranoia-Text gewesen, vielleicht sogar der beste seit Pakulas ‚Parallax View‘.
Wenn Blow Up‚ (1966) und ‚The Conversation‘ (1975), wie Frederic Jameson in “The Geopolitical Aesthetic” schreibt, die beiden markantesten Momente im historischen Prozess der Postmodernisierung (des Kinos) festhalten, weil mit diesen beiden Filmen die Authentizität sowohl des visuellen Image als auch des Tondokuments unterminiert wird, dann ist die ‚Matrix‘-Trilogie zweifelsohne das ultimativ-postmoderne Verschwörungskino. Bilder und Sounds sind keine Instanzen mehr; die Auflösung dieses Dilemmas kann nur noch rein esoterisch erfolgen. Auf die Frage Neos, woran er erkennen solle, dass das Orakel (Gloria Foster), mit dem er sich im zweiten Teil in einem New Yorker Hinterhof zum Taubenfüttern trifft, nicht auch ein feindliches Computerprogramm sei, entgegnet sie, dass er schon das Richtige tun werde – wenn er wirklich der Auserwählte ist.
Die Paranoia wird in ‚The Matrix Reloaded‘ in einer Szene ganz unmittelbar, wenn Agent Smith (Hugo Weaving), der nach seinem ‚Tod‘ im ersten Teil als ‚freischaffender‘ Superbösewicht zurückkehrt, sich im Zweikampf mit Neo wie ein Computervirus hundertfach in der Matrix verdoppelt, und Neo sich plötzlich gegen eine ganze Armee von Agenten zur Wehr setzen muss. Technisch ist ‚The Matrix Reloaded‘ wie auch der Vorgänger seiner Zeit wieder weit voraus, aber es sind eben genau solcherlei technische Voraussetzungen, die (im Film) auch die unterdrückerische Matrix erst ermöglichen. Bezeichnenderweise stammt die Technologie, die in den ‚Matrix‘-Sequels zur Anwendung kommt, zu einem nicht unbeträchtlichen Teil – abgesehen von den Kung Fu-Choreographien von Martial Arts-Veteran Yuen Wo-Ping – aus dem Wissenbestand des US-Militärs. Die Mitarbeiter des Special Effect-Wizzards John Gaeta ließen sich in den letzten anderthalb Jahren überall dort antreffen, wo sich auch die Vertreter des militärisch-industriellen Komplexes die Technologie für ihren ‚War against Terror‘ beschafften. ‚The Matrix Reloaded‘ ist damit schon jetzt das erfolgreichste Franchise des neuen ‚Military-Entertainment Complex‘.
Die Alternativen in dieser neuen Paranoia-Matrix versprechen kaum Erleuchtung. Fürchten Sie sich vor terroristischen Anschlägen, nehmen Sie bitte die blaue Pille. Fürchten Sie sich vor Ihrer eigenen Regierung, nehmen sie die rote.
Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 06/2003