Was tut die Leitung eines großen Filmfestivals, um einem seiner ehemaligen Starregisseure eine kreative Pause nahe zu legen? Sie ehrt ihn, indem sie ihn zum Präsidenten der Internationalen Jury ernennt. So erging es in diesem Jahr bei den Filmfestspielen in Cannes dem ehemals glorreichen Gewinner zweier „Goldener Palmen“ (1985 für “Papa ist auf Dienstreise“ und 1995 für „Underground“), dem notorisch ungeduschten Emir Kusturica. Denn der in Sarajewo geborene Regisseur durfte leider im Vorjahr, obwohl „Das Leben ist ein Wunder“ auch für die Goldene Palme nominiert war, nur mit dem „Kinopreis des französisch-nationalen Erziehungssystems“ nach Hause gehen. Dass der ehemalige „Fellini des Balkan“, der „Punk der internationalen Filmszene“ nun plötzlich schultaugliche Filme produzieren soll, stimmt nachdenklich – das Schlimme daran: Die französische Pädagogik hat Recht. Kusturicas bosnische „Romeo-und-Julia“-Variation ist trotz ihrer für den Regisseur typischen Wildheit am Ende tatsächlich nur ein simples, allzu simples Lehrstück geworden. Vom pädagogischen Wert der Kriegsoper darf sich ab morgen nun auch das deutsche Kino-Publikum überzeugen.
„Theater, Fußball, ist doch alles das Gleiche – das Leben ist eine Bühne“, sagt einer der durchgeknallten Helden in Emir Kusturicas Film „Das Leben ist ein Wunder“, und ab sofort weiß man, der Co-Autor und Regisseur neigt zum Fabulieren, weniger zur Philosophie. Über der Ergründung, was Bühne und Wunder eigentlich gemeinsam haben könnten, hält sich Kusturica denn auch nicht unnötig auf; lieber springt er gleich mitten hinein in das, was für ihn auf der „wunderbaren“ Bühne des Lebens passiert. Und das ist vor allem Wirbel, Krach, Hiebe – und Liebe.
Gleich eine ganze Arche voller Tiere schüttet Kusturica zwischen die Bewohner eines ländlichen präkriegerischen Jugoslawien, um zu zeigen, wie menschlich das Tier ist – und wie tierisch der Mensch. Da gibt es eine Katze, die eine Taube hypnotisiert, sodass sie starr zu Boden fällt und gefrühstückt werden kann, einen Esel, der sich auf die Bahngleise stellt, weil er aus Liebeskummer sterben will, einen Braunbären, der einen Mann in dessen Haus verputzt, um selbst Hausbesitzer zu werden, und es gibt eine Kleinfamilie von Menschen, die durcheinander schnattern wie die Enten, sich traurig lieben wie die Hunde, sich zanken wie die Hühner.
So weit, so gut, so naturverbunden. Aber wie das mit den natürlichen Gleichgewichten so ist, die müssen natürlich immer wieder mal kippen. Deshalb steuert der Trieb die Mutter Jadranka (Vesna Trivalic), eine ziemlich derangierte Opernsängerin, in Richtung Genitalien eines ungarischen Musikers, hinfort von Heim, Herd und Serbien. Deshalb muss Sohn Milos (Vuk Kostic) auf eine Fussballer-Karriere bei Partizan Belgrad verzichten und stattdessen zum Heer – und deshalb bricht der Bürgerkrieg los. Ja, und selbst dieser Krieg scheint auf einem biologistischen Mist gewachsen zu sein.
Der insgesamt schlichte Familienvater, Eisenbahningenieur Luka (Slavko Stimac, der wie eine Mischung aus dem jungen Steve Martin und Billy Bob Thornton rüberkommt), bleibt allein zuhause zurück, während sich nun rings umher im großen Stil entwickelt, was die multi-nationale, multi-animalische Anthropologie von „Das Leben ist ein Wunder“ für den Balkan voraussetzt: So besinnungslos wie man sich dort liebt, so fetzt man sich dort auch. Was vorher gescheppert hat, das rummst nun und wer zuvor mit einer Ohrfeige davon gekommen ist, der ist nun mausetot. Ex-Jugoslawien als eine einzige Menagerie aus großen und kleinen Tieren, die sich durchwursteln, durchvögeln, durchballern. Langeweile und niederer Instinkt, Überdruss und Aggression, Korruption und Machtgier münden in einen Krieg der Idioten; einen Krieg ohne Kriegshandwerker. Denn die Panzerfäuste gehen regelmäßig nach hinten los, nicht Kollateral-, sondern Totalschäden zieren die schöne bosnische Landschaft, noch „freundlicher“ ist ein friendly fire schwerlich vorstellbar (und da dachte man doch immer, die USA würden auch hier die traurigen Statistiken anführen) .
Ein Krieg als derbe Burleske, als dröhnende Blechblaspolka, als entfesselte Folklore, als enervierender Dauer-Slapstick, als besoffenes Militaristen-Musical, – aber auch als CNN-Report in Lukas TV. Eine der, leider seltenen, gelungenen Szenen: Wenn Luka die sensationslüsternen Fernsehbilder nicht mehr erträgt, das Gerät aus dem Fenster wirft und es draußen im Schmutz nicht aufhört zu senden. Luka nimmt das Gewehr und erschießt den Krieg im Fernsehapparat, der ihn stärker ängstigt als die Einschläge der Artilleriegeschosse rings um sein Haus. Eine andere Szene: Ein General begibt sich in den Eingang eines Bahntunnels, um mit seinem Handy ein „wichtiges“ Telefonat zu führen. Als er seine Kreditkartennummer angegeben hat, stöhnt eine (reichlich unprofessionell wirkende) Frauenstimme auf deutsch: „Ja, mach mich heiß!“ Das Militär befindet sich auf der Hotline eines deutschen Telefonsexanbieters und holt sich einen runter. Fast nur aus solchen Szenen, aus einem inflationär unverbundenen Nebeneinander von Miniaturen mit Figuren, die wir, kaum haben wir sie kennengelernt, auch schon wieder aus den Augen verlieren, besteht der halbe Film. Inflationär auch die Tunnels, die die Schluchten des Balkan verbinden und die Einzelepisoden regelmäßig von einander scheiden. Rein in den Tunnel, raus aus dem Tunnel, so lange, bis wir vor lauter Geburts- und Sterbe-Metaphorik am Tunnelblick leiden.
Dann tritt mitten in diese von wilden Symbolismen und Fantasien wuchernde Jugoslawien-Farce eine junge Frau. Eine blonde Muslimin, die Geisel Sabaha (Natasa Solak), vom General vorgesehen zum Austausch mit Lukas Sohn Milos, der schon kurz nach Kriegsausbruch in kroatische Gefangenschaft geraten ist. Ausgerechnet Luka soll sie beherbergen und bewachen, ausgerechnet in sie verliebt er sich. Die bosnische Ausgabe eines Marx-Brothers-Films zappt um in eine bosnische Romeo-und-Julia-Geschichte. In seiner zweiten Hälfte versucht der Film nun eine realistische Liebesbeziehung zu stiften, mit plausibleren Figuren, noch pittoresk zwar, aber mit Tiefgang. Doch da, wo er realitätsnäher werden will, wo er den sicheren Pfad der grotesken Überzeichnung zu verlassen versucht, kommt Kusturica kaum über altmodische Standards hinaus. Die Frau ist „süß“, reizvoll und devot, der Mann ist verstockt, verwirrt und verliebt. Dass dann diese Liebe die ganz große, überwältigende sein soll, vemag Kusturica wiederum nur mit Mitteln des totalcineastischen Überfalls zu erzählen: Liebe ist, wenn das ineinander verschlungene halbnackte Paar im prasselndem Herbstlaub über die Veranda kullert (das Mädchen kreischt), wenn derart verzückt ganze Weizenfelder niedergewalzt werden (das Mädchen kreischt lauter), und der Liebe Erfüllung ist, bei herbstlicher Witterung unter einem Wasserfall zu stehen und eine Wassermelone zu essen (das Mädchen kreischt – vor Kälte?).
Der Mensch ist Natur, die Liebe ist ein Wunder, der Krieg Blitz und Donner und das Leben Theater? Überwältigungskino und Totalverwirrung. Wenn Luka am Ende aus Liebeskummer auf den Bahngeleisen steht und Selbstmord begehen will, dann zeigt uns Kusturica, dass Luka ein Esel ist – als hätten wir das nicht vorher gewusst. Natürlich ist der moralische Konflikt, einen geliebten Menschen gegen einen anderen eintauschen zu müssen, ein unauflösbarer, natürlich schlägt der Krieg Gräben zwischen den Menschen, natürlich hämmert uns „Das Leben ist ein Wunder“ ein, dass wir unsere Feinde lieben könnten (besonders wenn sie gut gebaut sind). Die Botschaft ist nicht neu, aber dafür hausbacken umgesetzt. So bleiben vorhandene Ansätze von historischem – oder gar politischem – Erkenntnisgewinn auf halber Strecke in halbgarem Sentiment stecken, und anders als der konsequent brachiale Kusturica-Film „Underground“ bekommt „Das Leben ist ein Wunder“ seine Erzählweisen Groteske und Melodram nicht wirklich unter einen Hut. Dem Film mit der epischen Länge von 154 Minuten entgleitet im Trubel seiner vielen Ideen und aufgrund seiner künstlerischen Richtungslosigkeit der rote Faden.
Eine Satire wie „No Mans Land“ vom bosnischen Regiekollegen Tanovic – auch mit Mitteln der drastischen Überzeichnung inszeniert – zeigte bereits 2001, wie sehr viel eindringlicher und pointierter doch eine filmische Aufarbeitung des Balkankonflikts sein kann.