„Sag mir mal die Wahrheit!“, fordert Martha (Sandra Hüller) von ihrem Mann Paul (Felix Knopp). Für einen irritierenden Augenblick schwebt eine Unsicherheit zwischen den beiden, scheint aus dem Spiel Ernst zu werden. Mit Marthas Wechsel in den Konjunktiv entspannt sich die Situation kurz darauf wieder: „Wäre denn was rausgekommen?“. Ja, es wäre, hätte Paul diese Frage beantwortet. Doch der angeblich promovierte Mediziner, der demnächst eine Stelle in Marseille antreten soll, zieht es aus nicht näher behandelten Gründen vor, seine wahre Identität geheim zu halten und eine Lüge zu leben. In Jan Schomburgs Langfilmdebüt „Über uns das All“ gehört die vorsätzliche oder nur vorgebliche Täuschung zum Beziehungsspiel. Eine Sprache der Uneigentlichkeit markiert gewissermaßen seinen festen Kern. Weil das Eigentliche von Klischees umstellt ist, wird die Ironie zum Spiel gegen Abnutzungen. Doch wo das Eigene als Referenzpunkt fehlt, gerät die Ironie zum tödlichen Ernst.
So wird Martha durch die Nachricht von Pauls plötzlichem Selbstmord in eine ungläubige Fassungslosigkeit versetzt. Der Doppeldeutigkeit entzogen, wirkt die Wirklichkeit wie ein Schock. Martha, ebenso verunsichert wie verschlossen, braucht Zeit, das zu akzeptieren. Unfähig zur Trauer, versucht sie, mit kontrollierter Selbstbeherrschung in einem gesellschaftlichen Sinne zu funktionieren und erlebt ihre totale Hilflosigkeit. Dabei gewinnt der Grund der Verdrängung zunehmend Kontur, denn Pauls wahre Identität entzieht sich ihr immer mehr, weil sie kaum Spuren hinterlässt. Indem Marthas möglicher Trauer die Person abhanden kommt, projiziert sie die Bilder ihrer Liebe in einen anderen Menschen. Als gäbe es in ihrem Leben keine existentielle Zäsur, setzt sie das Beziehungsspiel mit dem Geschichtsprofessor Alexander (Georg Friedrich) fort, der in seiner Vorlesung zur Revolution von 1848 mit Hegel gerade über die geschichtliche Wiederholung bedeutender Ereignisse spricht. In einem ähnlichen Sinne spielt Martha mit größter Selbstverständlichkeit ihre alte Rolle mit einem neuen Partner durch.
Unter anderen Vorzeichen macht Martha mit ihrer Liebe also einfach weiter. Dabei wechselt der Film die Perspektive und blickt mit Alexander auf eine Frau, die sich immer wieder entzieht und deren schwankende Identität ungreifbar bleibt. Jan Schomburgs Inszenierung akzentuiert mit verfremdetem Ton, verstellten Bildern und „architektonischen Seelenräumen“ immer wieder diese selbstbezügliche, mysteriöse Ebene; und unterwandert dabei den nüchternen, fast klaustrophobischen Realismus seines sich in spiegelbildlicher Spiralförmigkeit entwickelnden Films, der andererseits zwischen ironischem Spiel und tragischer Ironie changiert. Ist die Liebe eine Projektion eigener Vorstellungen und Wünsche oder verwandelt sie das Gegenüber in einen andern Menschen? Jan Schomburgs Film „Über uns das All“, der mit William Shakespeares Sonett 116 über die im Wandel unwandelbar bleibende Liebe beginnt, verhandelt beide Möglichkeiten und hält eine Entscheidung darüber offen.