Während wir ausgetrocknete Landschaften des Death Valley sehen, behauptet der englische Bildungsexperte Sir Ken Robinson in markigen Worten, die menschliche Kultur beruhe auf der „Kraft der Vorstellung“. Diese Fähigkeit werde aber, so seine radikale These, systematisch durch eine falsche Erziehung und unangemessene Bildungseinrichtungen zerstört. Um dies zu ändern und damit Wachstum zu generieren, brauche es veränderte Rahmenbedingungen. Dass er dafür das nicht ganz stimmige Bild vom Regen wählt, der auf ausgedörrten Boden fällt, ficht ihn nicht an. Denn dem Dokumentaristen Erwin Wagenhofer, der dieses Statement als Rahmen für seinen dezidiert einseitigen und parteiischen Film „Alphabet“ wählt, geht es um grundsätzliche, ebenso brisante wie diskussionswürdige Fragen: Wie erziehen wir unsere Kinder? Was ist Bildung? Sind unsere Schulen fürs Lernen geeignet? Und was hat das alles mit unserer Gesellschaft und unserer Lebensweise zu tun?
Beunruhigende Beobachtungen dazu macht der österreichische Regisseur zunächst in China, dem Land der Pisa-Sieger: Standardisierte Lerninhalte, extremes Konkurrenzdenken, die Nivellierung individueller Unterschiede und staatlich kontrollierte Wettbewerbe formten die Kinder zu „Prüfungsmaschinen“ statt zu Menschen, sagt der chinesische Bildungskritiker Yang Dongping. Die Parole über diesem rigiden, für die kindliche Entwicklung ungesunden System laute: „Kinder dürfen nicht an der Startlinie verlieren.“ Dabei verlören sie aber ihr Ziel als Menschen. Diese gewiss etwas zugespitzte Einschätzung, die durch leicht plakative Bilder öder Schulhöfe, trister Stadtansichten und diszipliniert arbeitender Schulkinder unterstützt wird, findet ihre Entsprechung in den Analysen und Meinungen weiterer Experten.
So erklärt etwa der prominente Göttinger Hirnforscher Gerald Hüther, wie die angeborene Genialität der Kinder durch schulische Leistungsfixierung sukzessive verloren gehe. Unsachlich, fast demagogisch wird es allerdings, wenn der Schulkritiker unreflektiert einen unzulässigen Zusammenhang herstellt zwischen durch eine verfehlte Bildung „abgerichteten Menschen“, Fabrikarbeitern und willigen Befehlsempfängern der Nazi-Diktatur. Wagenhofers kritische Bestandsaufnahme ist jedoch heterogener und widersprüchlicher, als dies zunächst den Anschein hat. So wendet sich etwa mit dem Telekom-Personalvorstand Thomas Sattelberger ein systemimmanenter Kritiker gegen die zunehmende Ökonomisierung unterschiedlichster Lebensbereiche, die Hamburger Schülerin Yakamoz Karakurt liest ihren bewegenden Aufsatz über eine durch unser Schulsystem bedingte verlorene Kindheit und der mit dem Down-Syndrom geborene Hochschulabsolvent Pablo Pineda Ferrer aus Spanien plädiert für ein „Konzept der Liebe“.
Auf tief beeindruckende Weise wiederum findet sich dieses verwirklicht in dem von Arno Stern entwickelten Malspiel, das das ganze Wesen des Kindes aktiviere und dabei bewirkt, dass es zu sich selber komme. Gerade weil Wagenhofer nicht beansprucht, repräsentative oder gar erschöpfende Antworten zu geben, ist sein Film „Alphabet“ geeignet, Diskussionen anzustoßen. Schließlich geht es ihm darum, eine Bewegung zu erzeugen, die es ermöglichen soll, einen dringend notwendigen Perspektivwechsel vorzunehmen, um überhaupt die beunruhigenden Dimensionen des Problems in den Blick zu bekommen.