Es sei „ein Film über Europa in der Nacht“, sagt der österreichische Regisseur Nikolaus Geyrhalter über den doppeldeutigen Titel seiner neuen dokumentarischen Arbeit „Abendland“. Sein höchst konzentrierter Blick auf ausgewählte Lebens- und Arbeitswelten der „Festung Europa“ verfolgt dabei zwei Fragestellungen, die eng miteinander zusammenhängen und die das „Prinzip der Exklusivität, des Nicht-Teilens“ untersuchen: „Wie leben wir?“ Und: „Was beschützen wir?“ Sein Nachdenken über die Privilegien des Mitteleuropäers und seine politischen wie sozialen Verfahren kultureller Ausschließung führen Geyrhalter an Orte, die als Teile des Ganzen die Totalität gesellschaftlicher Funktionsweisen zum Vorschein bringen. So beobachtet er in einer langen Abfolge wechselnder Schauplätze und unkommentierter Szenen jene Arbeitsprozesse, die das System zwar am Laufen halten und seine Sicherheit weitgehend gewähren, deren materialistischer Kern aber zugleich vielfältige Formen der Entfremdung sichtbar macht.
Die Briefsortierung in einem Postzentrum, die in jeder Hinsicht zugespitzte, geradezu absurde Massenabfertigung in der drangvollen Enge des Münchner Oktoberfests kurz vor dem Kollaps oder auch die erschreckend unterkühlte Routine der Arbeitsabläufe in einem Krematorium sind dafür die offensichtlichsten Beispiele. Wobei diese Einblicke immer wieder dadurch verblüffen, dass sie Alltäglichstes überhaupt erst bekannt machen, es in Bilder setzen, die teilweise futuristisch anmuten; so etwa die intensivmedizinische Betreuung auf einer Säuglingsstation oder auch die hochspezialisierte Arbeit beim Flugzeugbau. Dabei vermittelt der Film immer wieder Kontraste zwischen dem Vertrauten und dem Fremden, zwischen Nähe und Distanz, die auf jene Grenzen im Innern eines komplizierten Apparates verweisen, der sich zugleich nach außen abschottet. Die Sicherung dieser inneren und äußeren Grenzen dokumentiert Geyrhalter an den Außenposten europäischer Grenzzäune (z. B. in der spanischen Exklave Melilla) sowie in den mit Videoüberwachung arbeitenden Kontrollzentren der Großstädte am Beispiel Londons.
„It’s a complex situation“ lautet eine Textzeile, die durch das (be)dröhnende Techno-Gewitter des Qlimax-Rave im niederländischen Arnheim dringt, wo sich tausende Party-Jünger der kollektiven Ekstase hingeben. Geyrhalter, der den existentiellen Gehalt seiner minutiösen Beobachtungen oft in Totalen verdichtet, gibt in wenigen Szenen diese objektivierende Distanz auf und mischt sich regelrecht unter die taumelnden, nach Entgrenzung suchenden Menschen. Hedonistischer Eskapismus und politische Flucht, Ausgrenzung und Kontrolle bilden die widersprüchliche Textur dieser filmischen Aufzeichnungen, einer Art ethnographischer Vermessung des Abendlandes. Im Sprachengewirr des Europäischen Parlaments wird diese Differenz sogar hörbar. Nikolaus Geyrhalter und sein Ko-Autor und Cutter Wolfgang Widerhofer finden beim Aufspüren des verborgenen Lebens aber auch Verbindendes zwischen den Menschen, das sich in der Sorge, der Pflege und Beratung ausdrückt.
Angesichts einer immer komplexer werdenden Gesellschaft und den Anfechtungen des geistlichen Berufs fragt ein lateinamerikanischer Priester den Papst bei einer Audienz vor dem Petersdom: „Welchen Weg sollen wir gehen, Heiliger Vater, in welche Richtung?“ Und Papst Benedikt antwortet, dass nur in der Liebe zu Gott Sicherheit und Trost liege.