Wollte man in den 80er Jahren hierzulande etwas über Dario Argento erfahren, dessen Filme immerhin seit 1970 in den Kinos liefen, half selbst vermeintliche Expertise nicht weiter: Das Autorenduo Ronald M. Hahn und Volker Jansen bspw. zog zornesrot in seinem „Lexikon des Horrorfilms“ – 1985 erstmals erschienen und seither in Genrefankreisen kultisch verlacht ob seiner kompilierten Idiotie – gegen jeden Film vom Leder, der die Folgen physischer Gewalt ins Bild übersetzt. Argento galt den beiden als Prototyp des geldgeilen Drastikpornografen. Auf seinen bizarren, in Deutschland mit zweijähriger Verspätung 1984 uraufgeführten Giallo-Nachklapp „Tenebrae“ wird nicht geblickt, sondern gekotzt:
„Ein amerikanischer Schriftsteller besucht Rom (…) und zieht die Leichen an wie ein Kuhfladen die Fliegen. (…) Da spritzt das Blut, da fliegen die Fleischfetzen. (…) Warum investieren diese italienischen Schlächterfilm-Produzenten nicht mal fünf Mark in irgendeinen Vielleser, der ihnen aus den Abertausenden von Horrorbüchern, die seit Johannes Gutenberg selig auf den Markt gekommen sind, eine zünftige Geschichte heraussucht? (…) Ja, merkt denn kein Mensch, dass dieses Wichtelhirn den Leuten mit seinen Filmen immer und immer wieder die gleichen Geschichten vorsetzt?“
Den Rest an filmkritischer Arbeit erledigte fast im Alleingang der Katholische Filmdienst, dessen Bannspruch „Wir raten ab“ für Argentos Filme so sicher war wie die pünktliche Aboauslieferung der sich über die Filme ausschweigenden Tageszeitung. Und wieso sollte sie auch berichten? Die Auswertungen beschränkten sich seit 1984 allein auf den Videomarkt (was nur noch ein einziges Mal 1999 mit dem kläglichen Kinostart von „Das Phantom der Oper“ unterbrochen werden sollte), die Filme wurden reihenweise gekürzt und indiziert. Im Fall von „Tenebrae“ erfolgte 1987 sogar die bundesweit Beschlagnahmung. Der italienische Regiestar, dessen Popularität und Anerkennung in seinem Heimatland zeitweise mit Hitchcock konkurrieren konnte, war in der Bundesrepublik ein Marktschreier und Schmuddelkind, dem bloß ein loyales Fandom die Treue hielt. Da bot auch die Hanser Filmbuchreihe keinen Trost.
Erst seit wenigen Jahren kommt Bewegung ins Spiel, folgen edle DVD-Editionen, Festivalretrospektiven und feuilletonistische Rehabilitationen. Unter der Herausgeberschaft von Marcus Stiglegger und Michael Flintrop erschien nun überdies ein 300seitiger Argento-Reader, den man, schon der editorischen Pionierarbeit wegen, für das Filmbuch des Jahres nominieren müsste, so denn ein solcher Preis nicht bloß als individualisierte Stimme Hans Helmut Prinzlers existierte. Das Material ist gewaltig, die Ansätze sind vielfältig und reichen weit über das geschätzte Tryptichon aus komplizierten Kamerafahrten, starken Farbkontrasten und pittoresken Mordinszenierungen hinaus: Marcus Stiglegger führt schwärmerisch in Argentos Ouevre ein, Johanna Barck und Jörg von Brincken arbeiten seine Affinität zur Bildenden Kunst (die derart prägnant den Filmraum besetzt, dass Barck sie als „Rolle“ skizziert) und Bühne (Grand Guignol) heraus, Ingo Knott und Heiko Nemitz die mitunter eher kolportierten als tatsächlichen Parallelen zu Mario Bava und Brian De Palma, Dominik Graf würdigt die Scores von Ennio Morricone und Goblin (deren Keyboarder Claudio Simonetti außerdem in einem Interview zu Wort kommt) und betrauert abermals das Ende des Euro-Sleaze, Harald Steinwender untersucht filmstilistische und narrative Spezifika in Argentos Westerndrehbüchern, Sebastian Selig schlendert über die einstigen „Suspiria“-Schauplätze in München und Freiburg, Michael Flintrop rekapituliert die haarsträubende hiesige Zensurgeschichte von Argentos Filmen, Ivo Ritzer fokussiert den von der Kritik oftmals erhobenen Vorwurf der Misogynie gendertheoretisch und liest Argentos Gialli als immerwährenden Kampf zwischen Mann und Frau „um die Kontrolle des Phallus“, der sich auch in eine weder männlich noch weiblich konnotierte Blickdramaturgie überträgt, die ihrerseits von einer autonomen Omnipotenz außerhalb klar definierter Erzählerinstanzen zeuge. Daran indirekt anknüpfend analysiert Johannes Binotto besonders eindrücklich die ungewöhnliche autonome Inszenierung des Raums, die so weit geht, dass die Welt außerhalb des Bildkaders selbst in einer trügerisch deutlichen Einstellung für die Figuren so überraschend wie für uns zur Gefahr für Leib und Leben werden kann. In „Suspiria“ etwa muss die vor ihrem Mörder fliehende Figur nur noch ein kleines Zimmer von rechts nach links durchqueren, um an ein Fenster zu gelangen. Aber bereits mit dem ersten Schritt stürzt sie in ein gewaltiges Drahtgeflecht unterhalb des Bildrandes, das sie, im Gegensatz zu uns, eigentlich hätte sehen müssen. Binotto: „Was außerhalb des Bildes liegt, ist nicht das banale Horschamp im Sinne dessen, was nebenan oder im Umfeld existiert, sondern vielmehr ein grausiges, unmögliches Außerhalb, das sich von einem Moment zum anderen verwandeln kann. Was die Figur (und uns Zuschauer) zerrüttet, ist nicht der Verfolger, sondern vielmehr der filmische Raum selbst, von dem man nie wissen kann, wie er sich außerhalb des Bildausschnitts fortsetzt. Dieser Raum, der sich mit jeder Kamerabewegung neu gestaltet, ist gerade darum tödlich. Die Kamera selbst, als Raum schaffende Maschine, ist der Killer.“ Solch gescheite Beobachtungen wünscht man sämtlichen schenkelklopfenden Logiklochjägern unters Kopfkissen!
Die zweite Sektion besteht aus chronologisch aufbereiteten Kritiken zu jedem einzelnen Film, komplettiert von einer fast 30seitigen Filmo- und Bibliografie. Spätestens hier kann man lernen, dass ein Zuviel an Liebe manchmal auch nüchterne Augen trügen mag. Der Drang, Argento endlich als grenzenlos visionären auteur zu umarmen, wirkt angesichts seines verirrten Spätwerks einesteils etwas blindwütig, aber auf Jahrzehnte der Ignoranz und des Spotts muss vielleicht auch erst einmal mit Leidenschaft reagiert werden.
Michael Flintrop / Marcus Stiglegger (Hg.): Dario Argento. Anatomie der Angst
Bertz+Fischer, Berlin 2013, 304 Seiten, 25 Euro