Was sind unmögliche Lektüren? Im Gespräch mit Katharina Müller sagt Michael Haneke an einer Stelle: „Den Großteil der filmwissenschaftlichen Sachen, die ich über mich gelesen habe, hab ich nach kürzester Zeit aufgehört zu lesen, weil ich nicht weiß, wovon die reden. Jedenfalls nicht von meinen Filmen.“ Hat Haneke Recht, öffnet sich zwischen dem Werk und den Werkzeugen der Rezeption eine Kluft: Anstatt den Film abzutasten, würde ein verblasstes Bild desselben in einen Theoriekomplex eingegliedert, der nach einer ganz anderen Logik funktioniert als das Werk selbst.
„Unmögliche Lektüren“ von Matthias Wannhoff trägt den Untertitel „Zur Rolle der Medientechnik in den Filmen Michael Hanekes“. Diese Rolle wird, grob gesagt, in sich wiederholenden Versuchsanordnungen untersucht, an denen drei Parteien partizipieren: (1) Jeweils ein Film Michael Hanekes („Benny’s Video“, „Funny Games“ und „Caché“), (2) die Hermeneutik und (3) die medienmaterialistische Theorie in der Tradition von Friedrich Kittler und Wolfgang Ernst, bzw. in der Untersuchung von „Funny Games“ auch das Denken von Vilém Flusser.
Betrachtet man diesen Lageplan im Kontext der Haneke’schen Äußerung, ergeben sich schon im Vorhinein Fragen: Braucht es die Medientheorie, um die innere Logik eines Films zu erfassen? Was wäre der Gewinn, wenn man Koinzidenzen aufzeigt? Lernt daraus die Medientheorie? Lernt daraus der Film? Kann mehr als ein Leistungsnachweis erfolgen, im Sinne von: Das lässt sich mit Kittler ausgezeichnet erklären, lesen sie ihn!? Oder könnte diese Begegnung etwas für die Kittler’sche Theorie bringen, im Sinne von: Hanekes Filme erschüttern die Theorie an diesem Punkt, das muss man nochmal überdenken?
Kittlers Medientheorie hat zur Grundlage, dass es Medien sind, die unsere Lage bestimmen, und damit das, was gesagt, gedacht, geschrieben werden kann. Ein in diesem Sinne medientheoretisches Unterfangen würde auf keine inhaltiche Interpretation hinauslaufen, sondern auf das Klären der Frage, inwiefern das Medium „Film“ erst bestimmte Aspekte der Werke Hanekes ermöglicht, die so z.B. in Schrift oder Fotografie allein nicht möglich wären. Diese Frage steht nicht im Mittelpunt von „Unmögliche Lektüren“, sondern ein paradox anmutendes Unternehmen: „Vielmehr gilt es, technikzentrierte Theoriebildung und ästhetische Praxis als gleichberechtigte Orte der medientheoretischen Reflexion aufzufassen, die beide auf ihre Weise über Medientechnik nachdenken – mit der Besonderheit allerdings, dass diese Weisen in einem auffälligen Ähnlichkeitsverhältnis zueinander stehen.“ (10) Es geht also darum, die Filme auf Inhaltsebene als Medientheorie zu lesen. Schon die Einleitung thematisiert dieses Problem, dass hier eine Theorie aus etwas sprechen soll, wo die zugrunde liegende Perspektive eigentlich das Rauschen der Medien hören will. Das Schlusskapitel versucht dem Problem beizukommen, indem es zeigt, wie die Art und Weise, in der in Hanekes Filme Störungen auftreten, Erkenntnis gestiftet wird – aber, ließe sich einer solchen conclusio erwidern, sind dann Hanekes Filme tatsächlich Medientheorie, oder erzwingen sie vielmehr gewisse Reflexionen, in der Art und Weise, wie sie Medien inszenieren?
Eine solche Fragestellung hält sich „Unmögliche Lektüren“ auf Distanz. Sie klingt z.B. in Äußerungen an, die Haneke selbst im Rahmen von Interviews getätigt hat, und die die vorliegende Studie bezichtigt, einen „blinden Fleck“ (14) zu haben. Die Filme Hanekes sollen quasi gegen die Interpretation ihres Schöpfers verteidigt werden: „Nicht nur methodisch, sondern bereits sachlich gilt daher, dass die Eigeninterpretationen Hanekes – aus medientheoretischer Perspektive – ihrerseits ausgeklammert werden müssen, um überhaupt so etwas wie interpretatorisches Neuland betreten zu können.“ (14) Wie Wannhoff in diesem Zusammenhang zeigt, stehen Hanekes Äußerungen in der Tradition der Kritischen Theorie, zu der Kittler – es sei hier mit eigentlich verfälschender Zurückhaltung ausgedrückt – ein distanziertes Verhältnis pflegte.
(Was die Studie in diesem Zusammenhang anmerken hätte können, aber ihrer weiteren Argumentation auch nicht in die Quere kommt, wäre, dass sich gefühlt genauso viele Stellen finden lassen, in denen Haneke betont, er wolle die Zuschauer lieber mit ihrer Interpretation alleine lassen – „I don’t want to impose my own views beyond what I have already committed to film.“)
Doch wie arbeitet „Unmögliche Lektüren“ konkret mit den Filmen? Die grundlegende Strategie besteht darin, anhand präziser Beobachtungen die zentralen Konflikte der Filme nicht etwa auf die Konfrontation verschiedener sozialer Klassen o.ä., sondern auf das Agieren von Medientechniken zurückzuführen. Dabei werden die untersuchten Filme zunächst gegen verschiedene Hermeneutiker ausgespielt – da Hanekes Filme das Scheitern von Kommunikation zum Ausdruck bringen, ist dies nachvollziehbar.
Die Untersuchung von „Benny’s Video“ demonstriert dann eindrucksvoll, welche Wege medientheoretische Reflexionen der Rezeption eröffnen können: Es wird gezeigt, dass die Hauptfigur des Films (und aufgrund der Montage auch der Zuschauer), genau dort zur Reflexion über gewaltvolles Handeln gezwungen wird, wo die Gewalt nicht mehr durch die Medientechnik aufgezeichnet wird.
In „Funny Games“ wird eine „Krise der Linearität“ im Sinne Flussers festgestellt, die von Medien ausgeht – etwa dadurch, dass ein Mörder die Handlung des Films per Fernbedienung zurückspulen und verändern kann. Ob eine solche Krise prinzipiell von Medien verantwortet sei, wie an dieser Stelle behauptet, müsste allerdings weit ausführlicher diskutiert werden, als dies im Rahmen der Untersuchung geschieht (nicht erst das als Beleg herbeizitierte „Pulp Fiction“ hat in sich verwickelte Handlungsstränge). Gerade bei „Funny Games“ scheint mir diese These aber besonders problematisch: Schickt dieser Film nicht eine Familie ins Verderben, und dies mit einer sonst ungesehenen Linearität, in deren Dienste verschiedene Medien stehen?
„Caché“ schließlich zeige die Unfähigkeit eines Hermeneutikers, mit anonymen Videos umzugehen, die ihm zugeschickt werden. Die medientheoretischen Überlegungen, die hier getätigt werden, unterscheiden die Videos von einem herkömmlichen Drohbrief und weisen darauf hin, wie das entsprechende Medium eine Autorlosigkeit erzwinge. Ähnlich wie bei „Funny Games“ fragt sich aber, ob hier nicht mit mehr Nachdruck differenziert werden müsste – auch wenn die Videobilder ohne „Autor“ sein mögen, beraubt man den Film um viele seiner Ebenen, wenn nicht ausreichend berücksichtigt wird, dass die Videokamera zuweilen gehalten worden ist. Damit kann „Unmögliche Lektüren“ zwar auf Blindstellen hindeuten, läuft aber Gefahr, noch einmal so viele zu schaffen, wie im Rahmen der Untersuchungen aufgedeckt werden sollten.
Matthias Wannhoff: Unmögliche Lektüren. Zur Rolle der Medientechnik in den Filmen Michael Hanekes.
Kulturverlag Kadmos, 2. Aufl., Berlin 2015. 176 Seiten. 22,50 Euro