Es besteht wohl wenig Zweifel daran, dass die Entstehung des Videomarkts in den 1980er Jahren dem narrativen Pornofilm zumindest in Fragen der Experimentierfreude das Genick gebrochen hat. Natürlich gibt es sie noch, jene bizarren Werke, die nicht notwendig stimulieren, sondern weitaus lieber normativ geratene Sehgewohnheiten irritieren möchten. Ebenso werden speziell in den USA große Anstrengungen unternommen, mit hochbudgetierten Produktionen, oftmals in Gestalt unsäglicher Remakes von massenerprobten Franchise-Titeln wie „Pirates of the Caribbean“, „Spiderman“ oder „Lord of the Rings“, wenigstens ein paar Scheinwerfer des Rampenlichts auf das eigene Werden und Wirken gerichtet zu sehen. Trotzdem muss der Befund wohl lauten: Porno oszilliert gegenwärtig sehr diametral zwischen Nische und Einfallslosigkeit, und ganz gleich welche Gründe dafür verantwortlich sein mögen – die Dominanz des so genannten Gonzoformats seit der Blütezeit der Videokamera, die leichte Verfügbarkeit der Pornographie im Internet -, es fällt nach der Lektüre von Christian Keßlers Handbuch durchaus schwer, nicht reflexartig eine vergangene Epoche zu preisen, in der eine Art filmischer Anarchismus offenbar sehr konstant den Produktionsprozess begleitete.
Keßler begibt sich (wieder mal – man schlage nach in seinen Büchern „Das wilde Auge“ (1997) und „Willkommen in der Hölle“ (2002), worin er sich dem Giallo-Kino bzw. dem Italowestern widmete) in die äußerste Peripherie der Filmgeschichte und folgt diesmal bei seiner Exkursion der Zeitachse des amerikanischen Hardcorefilms von 1970 bis 1985, sozusagen vom Vorabend des „Deep Throat“-Phänomens zu the Year Porn broke, als die Dark Brothers mit „New Wave Hookers“ eine im Prinzip bis heute anhaltende Welle an style-over-substance-Filmen lostreten sollten. Was Keßler dabei akribisch leistet, ist Geschichtsaufarbeitung von gewaltigem Wert. Zwar wurde der pornografische Film auch im deutschsprachigen Raum in den letzten Jahren verstärkt zum Studienobjekt der Film- und Kulturwissenschaften (jüngste Beispiele sind etwa der Reader „Sex und Subversion“ bei Bertz+Fischer oder Sabine Lüdtke-Pilkers Monographie über feministische Frauenpornografie „Porno statt PorNO“ bei Schüren), an filmhistorischen Arbeiten mangelt es hingegen nach wie vor.
Welch schwieriger Weg da noch bevorstehen könnte, beweist letztlich Keßlers Buch selbst, dessen Editionsgeschichte dank unzähliger Absagen ganze acht Jahre beanspruchen sollte, bis es schließlich nun vom ehrwürdigen Martin Schmitz Verlag als bibliophiles Hardcover veröffentlicht wurde. Ein beeindruckendes Kompendium: Elf Interviews mit RegisseurInnen, ProduzentInnen und DarstellerInnen komplettieren die insgesamt 90 Filmbesprechungen, die mit Verve und fast erschlagender Informationsfülle Produktionsbedingungen, die Personenkonstellationen der Kreativen wie auch den film- und sozioökonomischen Kontext beleuchten. So entsteht das recht schillernde Panoptikum einer Zeit, in der auf 35mm-Material von gesellschaftskritischen Ansätzen über Musicals bis zur verstörenden Groteske kein Sujet gescheut wurde, um dem Sex auf der Leinwand nicht noch irgendeine originelle Sichtweise abzuringen. Dies bedingte sich auch aus der Form des Genres selbst: Den Produzenten war es in der Regel gleichgültig, in welche Geschichten die Kopulationen gebettet wurden, sofern es nur explizit zu Werke ging. Mit beispielsweise „Friday the 13th“-Regisseur Sean S. Cunningham oder Abel Ferrara sind unter den Beteiligten auch einige populäre Namen gestreut, insgesamt jedoch wird sich unter den LeserInnen sicher höchstens eine Handvoll finden, die auch nur einen Bruchteil der rezensierten und ohnehin nur schwer zu beschaffenen Filme gesehen hat. Für eine eher von Mythen und Aversionen denn ernsthaften Historisierungsbemühungen umrankte Erscheinung des Films, die der Großteil der hiesigen Filmpublizistik schon deshalb ignorieren muss, weil es schlicht und ergreifend an spezifischen Kenntnissen mangelt, fungiert das Buch als eine überfällige dezidierte Feldforschung von unten und sollte bereits jetzt zu den Standardwerken zählen.
Christian Keßler: „Die läufige Leinwand. Der amerikanische Hardcorefilm von 1970 bis 1985“
Martin Schmitz Verlag, 2011, 280 Seiten, 29,80 Euro