Der entscheidende Moment ist letztlich erahnbar: Das Aufwachen der jungen Frau gegen Mitte von Chris Markers in Standbildern erzähltem Klassiker „La Jetée“ (1962), der Übergang vom Unbewussten zum Bewussten und damit von der Serie von „stills“ zu den plötzlichen Bewegtbildsekunden wird vorbereitet in einer Reihe weicher Überblendungen, die bereits Bewegtheit zu suggerieren scheinen. Und doch: Das Aufschlagen der Augen, die für einen kurzen Moment ruhig in die Kamera blicken, bleibt überwältigend, fast etwas verstörend. Als sei ausgerechnet der Besuch bei einer Toten zum konstitutiven Moment der Selbstfindung des namenlosen männlichen Protagonisten geworden: Ich sehe dich, du siehst. Er, „marked by an image from his childhood“, wie es am Anfang im Kommentar heißt, ist die Laborratte einer kalterstarrten, postapokalyptischen Zukunft (Gegenwart des Films), weil sein Erinnern zum Nicht-Vergessenkönnen geworden ist. Zeuge eines Gewaltaktes war er als Kind geworden, hat einen Mann am Flughafen von Paris-Orly sterben sehen – und kann doch vor allem das weiche, zwischen Erstaunen und Entsetzen wechselnde Gesicht einer jungen Frau am Rande des Geschehens nicht vergessen. Weil die Furchen, die die Szene (die Bildfolge) des Horrors und das friedliche Einzelbild in seine Erinnerung gegraben haben, tief sind wie die Narben, die man ein Leben lang nicht mehr loswird, ist er ein ideales Versuchstier: Ein auf seinem Trauma Zeitreisender soll zur Rettung der Gegenwart antreten, indem er ins Reich der Toten, der zu Staub Zerfallenen geschickt wird – um sie sprechend und helfend zu machen und vielleicht mitzubringen, was seiner Zeit fehlt.
Das Totenreich aber ist ebenfalls eine Welt der festgefrorenen Bilder. Ein gefundenes Fotoalbum der eigenen und kollektiven Erinnerung – wirr und verselbständigt, wiedererkennbar und doch verändert. Durch dieses Album wird der Namenlose gezerrt, lebt in seinen und fremden „mental images“, bis er – sofort ohne jeden Zweifel – die Frau aus seiner Kindheit erkennt. Er folgt ihr wie James Stewart in „Vertigo“ Kim Novak folgte, sieht sie, genau wie jener, in einem Blumengeschäft, und auch für die Unbekannten aus „La Jetée“ wird für kurze Zeit der Alptraum der Vergessensunfähigkeit zum Traum der vergessenden Liebenden: Ohne Erinnerungen und ohne Pläne erleben sie reine Gegenwart und wandern unter den Bäumen der Tuilerien durch ein Paris vor der Katastrophe.
Unheimlich jedoch, wie uns auch diese Episode unverändert in Gestalt eines „Fotoromans“ unbewegter Schwarzweißbilder erzählt wird – als seien diese und alle Bilder vor allem Andenken, an Vergangenes und Zukünftiges gleichermaßen („Souvenir d’un avenir“, wie folgerichtig ein Film heißt, den Chris Marker 2001 mit Yannick Bellon realisierte). In einem Museum betrachten die Spazierenden ausgestopfte Tiere: Ausgerechnet Markers „stills“ betrügen diese um die langen Jahre angesammelten Staubs in ihren Fellen. Die toten, höchst lebendig konservierten Tiere treffen auf die gleichfalls toten Menschen, deren Augen – wie den Knopfaugen der Präparate – jeder Fokus zu fehlen scheint. Jean-Louis Schefer hat in einem vielbeachteten Essay zu „La Jetée“ auf die Diskrepanz zwischen Zeit und (Erinnerungs)Bild und ihre tragische Überwindung hingewiesen: Der „Held“ stirbt nach den 28 Minuten des Films, indem die Zeit schließlich doch die Brücke schlägt zwischen dem Schreckens- und dem Sehnsuchtsbild seiner Erinnerung. Das Bild der Gewalt, das seit seiner Kindheit sein Bewusstsein vernarbt hat, ist das Bild seines eigenen Todes. Er findet ihn in jenem Moment, als er schließlich noch einmal am Flughafen auf die junge Frau zulaufen will und darin von der Zeit unerbittlich überholt wird: Ein „Agent“ aus der Zukunft/seiner Gegenwart ist ihm gefolgt und tötet ihn am Rande des Rollfelds – vor den Augen seiner selbst als Kind.
Kaum jemand hat für das Kino die Topographien des Erinnerns, der Zeit, des Sehens und Blickens so unermüdlich erkundet wie Chris Marker. In den erstaunlichsten Blick-Momenten seines Filmens – wie dem plötzlich animierten Augenöffnen in „La Jetée“ oder der halbzufällig in die Kamera blickenden jungen Frau an der Küste von Guinea-Bissau in „Sans Soleil“ (1982) – scheint man plötzlich glauben zu wollen, dass der „Augen-Blick“ die am ehesten adäquate Maßeinheit der Zeit sein muss: Augen(paare) als physiologische Bedingung des Sehens, Blicke als dessen Strukturierung und so als ein möglicher Ort der Synthese von Zeit, die wir im Richten des Blickes – und, mit Husserl gesprochen, zwischen Protention und Retention – leiblich erfahren. Immer wieder werden bei Marker Augenpaare vermeintlich auf „uns“, in Wahrheit auf das Objektiv gerichtet: die leeren Augen der Statuen und ausgestopften Tiere in „La Jetée“, die elektronischen Augenpaare aus den Computern und Fernsehern in „Sans Soleil“, die Augen der grinsenden Katzen (neben den Eulen Markers Lieblingstiere) an den Pariser Hauswänden in „Chats Perchés“ (2004). Manchmal – wie in „La Jetée“ oder in den Augen des todkranken Andrei Tarkovski in Markers „Une journée d’Andrei Arsenevich“ (2000) – sind Blicke darunter, die erschaudern lassen in der vollen Gegenwärtigkeit und gleichzeitigen Vergänglichkeit, die sie behaupten: In das Gesicht der Zeit zu schauen, ist bisweilen kaum zu ertragen, wenn es zurückblickt. Es wundert nicht, dass es von Chris Marker selbst kaum Fotos oder Filmaufnahmen gibt. Ein kurzer Augen-Blick in Wim Wenders Tokio-Film „Tokyo-Ga“ (1985) markiert eine der wenigen und die vielleicht schönste Ausnahme: Marker versteckt sich in einer Tokioter Bar, die nach „La Jetée“ benannt ist, hinter einem Blatt mit Zeichnungen von Katzen und Eulen – und riskiert dann doch einen sekundenkurzen Blick. Wie zur Sicherheit allerdings nur mit einem Auge.
Weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit ist der große Welt- und Zeitreisende des Kinos, der Filmemacher, Autor, Fotograf, Video- und Computerkünstler und – für seine jüngsten Arbeiten – rege YouTube-User Chris Marker in der vergangenen Woche am 29. Juli 90 Jahre alt geworden.