Wie bereits im Falle von Gilles Deleuze, Gérard Genette und Jacques Rancière ist auch das Denken des französischen Philosophen und Mathematikers Alain Badiou in besonderem Maße dem Kino und/oder dem Film verpflichtet. Die Kunst und insbesondere die unreine siebte Kunst, der Film, ist für Badiou eine der Voraussetzungen seiner Philosophie. Ein aktuell erschienener, recht voluminöser Band versammelt Texte des französischen Philosophen aus den vergangenen 50 Jahren zum Film und/oder Kino, die Badiou als ciné-fils zeigen, der sich dem Film nicht als Kritiker, sondern als Philosoph nähert. Was heißt das? Badiou reagiert reflexiv auf die Tatsache, dass ein Film „wirkt“, ganz konkret, dass ein Film – gut oder auch nicht so gut – ihn berührt: „Wenn ich darüber spreche, wenn es mich berührt, dann versuche ich herauszufinden, warum. Ihre Art und Weise die Zeit zu bezeugen hat mich berührt, und ich gebe ihnen zurück, was sie mir gegeben haben.“
Angefangen vom frühesten, 1957 in der links-katholischen Zeitschrift „Vin nouveau“ veröffentlichten Text „Die kinematografische Kultur“ bis hin zum jüngsten hier versammelten Text – einer knappen Auseinandersetzung mit Clint Eastwoods „A Perfect World“ – zeigt sich Badiou dabei als Kind der Cinémathèque française, das im Rahmen seiner Überlegungen immer wieder auf die Klassiker, auf Murnau, Griffith, Welles, Chaplin, Stroheim oder Ozu zurückkommt. Als Aktivist der 68er-Bewegung wurde Badiou zum Anhänger Althussers und versuchte dessen Marxismus mit der strukturalistischen Psychoanalyse Lacans zu vermitteln. „1968“, so Badiou, sei eine große Sache gewesen, die allerdings nicht direkt „die ihr entsprechende Politik produziert“ habe: „1968 warf viel eher die Frage nach einer Neuerfindung der Politik auf, als selbst eine politische Sequenz zu bilden.“
In den folgenden 1970er Jahren gehörte Badiou zu den Gründungsmitgliedern der radikalen maoistischen Gruppe UCFml und publizierte in der „Zeitschrift für marxistisch-leninistische Intervention in Film und Kultur“ „Le Feuille foudre“. Der Film erschien für marxistische Interventionen gerade deshalb besonders interessant, weil er eine Massenkunst ist: „Millionen Menschen (lieben) ein Meisterwerk in dem Moment, wo es erscheint.“ Und: Film „ist eine gemeinsame Kunst: Man weiß, wenn man manche Filme sieht, dass man sie gemeinsam mit Millionen anderer Menschen sieht. Diese Tatsache weist nicht darauf hin, was der Film wert ist, weder im positiven noch im negativen Sinne, eher darauf, dass der Film eine Art Schule für alle darstellt.“ Im Umfeld von Le Feuille foudre bedeutete eine solche Einschätzung des Films als „unreine Massenkunst“ zunächst einmal radikale, teilweise sehr aggressiv vorgetragene Ideologiekritik. Badiou sagt dazu heute: „Wir fügten unsere umfassende Filmleidenschaft gewissermaßen in den Rahmen der revolutionären Stimmung der Epoche ein.“ Filme wie „Lacombe Lucien“, „1900“, „Mado“ oder „Die Wanderschauspieler“ werden Ende der 1970er Jahre mit viel Schwung als „revisionistisch“ und als „konterrevolutionärer Populismus“ entlarvt, wobei Badiou rückblickend darauf hinweist, dass die filmanalytischen Argumente der internen Diskussionen nuancierter ausfielen als die polemischen Urteile, die schließlich in Tribunalen gefällt wurden. 1978 las sich das noch so: „Eine glaubwürdige fortschrittliche Kunst (aber auch eine revolutionäre Kunst) muss in Hinblick auf die Geschichte der Formen eine Kunst ihrer Zeit sein (während die Revolution die Zeit verändert). Sie muss im Hinblick auf die aktuelle Formenwelt derart Position beziehen, dass sie als der einzigartigen Bewegung der Kunst innerlich begriffen wird, und diese aktuelle Formenwelt gleichzeitig in den Dienst der Mobilisierung für fortschrittliche Inhalte stellen.“
Schon früh wird bei der Lektüre der Texte Badious klar, wie sehr sich das Verständnis vom Film als „Massenkunst“ mit dem Interesse an einem politischen Interventionismus reibt. Zumal die erklärte Massenkunst den Cineasten Badiou nicht gerade zur Auseinandersetzung anregt. Zwar kann er mit triftigen Gründen einen Film wie Schlöndorffs „Die Fälschung“ als „schädlich“ im Klassenkampf kritisieren, doch am Ende der Kritik weiß man wenig mehr, als dass Schlöndorffs Film ohnehin kein Gegner auf Augenhöhe gewesen ist. Anders sieht es da schon mit Bressons „Der Teufel möglicherweise“ aus, der gleichzeitig mit formaler Meisterschaft eine Position der extremen Rechten vertritt – und dennoch etwas Richtiges zeigt: dass diese „von Bequemlichkeiten überquellende Welt in Wahrheit ein trauriger Niedergang ist.“ Immer wieder fragt der Philosoph Alain Badiou: Was kann uns dieser oder jener Film als Subjekt über den Zustand der Welt sagen? Oder auch: „Was mich interessiert, ist, was dieser Film für die aktuellen Debatten bedeuten kann, was er bezeugt.“ Manches Mal bleibt Badiou im Allgemeinen und Apodiktischen stecken, wenn es ihm darum geht, den Film als philosophisches Experiment zu fassen, ihn als „Metapher des zeitgenössischen Denkens“ zu verstehen und produktiv zu machen. Das verbleibt dann gerne im Ungefähren, wenn es beispielsweise heißt: „Ein Film ist eine Behauptung im Denken, ist eine Bewegung des Denkens, ein Denken, das gleichsam mit seiner künstlerischen Anordnung verbunden ist.“ Oder: „Unter allen Künsten ist der Film sicherlich diejenige, die die Fähigkeit besitzt, zu denken und eine absolut unbestreitbare Wahrheit zu erzeugen. Sie ist durchtränkt von der Unendlichkeit der Wirklichkeit.“ Oder: „Das Thema eines Films ist nicht seine Geschichte, seine Handlung, sondern das, wozu dieser Film Stellung nimmt, und die filmische Art und Weise, wie er das tut.“
Zum Glück gibt es Godard, den exemplarischen Zeitgenossen, der Badiou filmische Vorlagen liefert, die den Philosophen zur Hochform auflaufen lassen. Ein Glücksfall ist Badious Aufsatz zu Godards „Passion“, denn hier vermag er einzulösen, was sonst gern flüchtig bleibt: den Nachweis der Zeitgenossenschaft eines Films. Einer Zeitgenossenschaft freilich, die notwendig abstrakt bleiben muss, weil „Passion“ zunächst nur Fragen stellt: „Wie steht es am Beginn dieser 1980er-Jahre um die Möglichkeiten des Denkens und des Lebens? Es ist ein Film über die Möglichkeiten; auch deshalb ist er nicht leicht zu erfassen, weil er sich weniger auf die Realität oder die Fragmente der Wirklichkeit bezieht als eben auf die Möglichkeit. Wie steht es um die Möglichkeiten des Denkens und des Lebens oder um das Leben als Denken des Lebens? Das ist das eigentliche Thema des Films.“ Godard liefert auf all diese Fragen keine eindeutigen Antworten, aber er schafft immerhin filmische Situationen, die diese Frage diskutieren. „Passion“, so Badiou, sei ein Film des Übergangs, des „Zwischenraums“: „Etwas, das es früher gab, gibt es nicht mehr, aber etwas von dem, was kommen sollte, kommt nicht.“
Nun ist „Passion“ alles andere als „Massenkunst“, ist eher ein schwieriger, elitärer Kunst-Film voller Anspielungen an die Hochkultur und Kunstgeschichte. Ein Problem? Nein, denn längst ist der Philosoph so weit, dass er dem Film noch die Möglichkeit der Massenkunst nachrühmt. Die unreine Kunst des Films kämpft um ihre Reinheit – und den „Waisen der Idee der Revolution“ bezeugt schon die Zeugenschaft dieses Kampfes eine „Lektion in Sachen Hoffnung“. Es gibt keinen umfassenden, endgültigen Sieg mehr, aber mitunter kleine und auch vorübergehende Siege über die unreine Welt: „Man darf nicht verzweifeln. Ich denke, das erzählt uns der Film. Und dafür müssen wir ihn lieben.“ So wird der Film zu einem Ort der Utopie: „Über einen Film zu sprechen bedeutet weniger, über die Ressourcen des Denkens zu sprechen als über seine Möglichkeiten, wenn die Ressourcen des Films durch die Gunst der anderen Künste erst einmal gesichert sind. Es geht darum, aufzuzeigen, was dort außer dem, was da ist, noch sein könnte.“
Dieser Text ist zuerst gekürzt erschienen in: Filmdienst 18/2014
Alain Badiou: Kino. Gesammelte Schriften zum Film
Herausgegeben von Peter Engelmann, übersetzt von Paul Maercker, Passagen Verlag, Wien 2014, 368 Seiten, 42 Euro