Noch bevor der Vorspann abrollt, gleiten wir in eine Welt, die grundlegend in Unordnung geraten ist. Gerade haben wir César kennengelernt, haben gesehen, wie er sich aus dem Bett herausarbeitet, sich unter die Dusche schlängelt, durch seine Loftwohnung hastet und im VW-Käfer davonbraust. Die Spanier lieben ihre männlichen Stars besonders, wenn sie aufs Haar den Jünglingen in ihren hochglanzkaschierten Werbemagazinen gleichen und jene Klischees bedienen, die sich in den Neunzigern mit der Vorstellung eines smarten Startup-Unternehmers verbunden haben. Eduardo Noriega in Alejandro Amenábars „Abre los ojos“ (Öffne die Augen, Sp/Fr/It 1997) ist ein solcher Beau, was ihn freilich vor seinem schrecklichen Schicksal nicht bewahren wird.
César fährt durch die Innenstadt von Madrid. Hochhäuser, Balkone und Balustraden, pompöse Postmoderne und viel Neobarock, die Sonne scheint, es ist ein schöner Vormittag, die Uhr zeigt kurz nach zehn. Etwas stimmt nicht. Erst irritiert, dann staunend, schließlich fassungslos blickt der junge Mann in eine gläsern-jenseitige, geisterhaft-entseelte Szenerie: Auf den Straßen der prächtigen Stadt sind keine Menschen, Madrid ist wie leergesaugt. Mitten auf einer Kreuzung lässt er den Wagen stehen, steigt aus, blickt um sich, schaut zu den Fassaden hoch, lauscht: kein Laut, kein Lebewesen, eine Verkehrsampel blinkt ihre Signale ins Nichts. César beginnt zu laufen, torkelt, läuft weiter, als rette ihn das Laufen vor etwas, das nach ihm greift, rennt und rennt in die Tiefe der totenstarren, sterbensstillen Stadt.
Am Ende des Films wird es so etwas wie eine Auflösung des Rätsels geben, auf dem Weg dahin aber hat Amenábar so viele Mysterien, auch Ungereimtheiten aufeinander getürmt, dass dem Zuschauer jegliche Hoffnung auf Plausibilität vergangen sein dürfte. Spanien hat die Liebe zum Barock an die Labyrinthik vieler seiner Filme weitergegeben – das haben vor allem seine Kinohelden zu büßen, vor allem dann, wenn sie, wie César, nach einem Autounfall an einer schweren posttraumatischen Bewusstseinsstörung leiden, wenn ihr Gesicht entstellt ist und sie zwischen Erinnerung und Traum, realen und surrealen Erzählebenen hin- und hergejagt werden. Doch damit nicht genug – am Ende findet sich César gar in den Fängen einer Kyronik-Firma wieder, die ihre Kunden im Sterbefall einfrieren und nach aufwendiger Reanimation in einer virtuellen Realität wiederauferstehen lässt. Borderline-Kino somit, Surrealismus plus Science fiction, beides in barocker Opulenz. Zwei Frauen komplizieren zusätzlich die Geschichte, von denen die eine, Nuria (Najwa Nimri), César nachstellt und die andere, Sofía (Penélope Cruz), ihn und uns im ungewissen lässt, ob sie überhaupt existiert.
Sehr leicht, wie ein Hauch weht die Liebesgeschichte zwischen César und Sofia in diesen reichlich flamboyanten Film; Nähe und Fremdheit bleiben in pendelnder Balance. In einem Park sieht César aus der Ferne eine schmale Gestalt, weißer Mantel, weiße Mütze, auch das Gesicht ist weiß geschminkt, unter dem Mantel ein blaukariertes Clownsgewand. Es ist Sofia, er hat sie auf seiner Geburtstagsfeier kennengelernt, nun zögert er, sich ihr mit seinem zerstörten Gesicht zu nähern. Sie stellt sich in Positur, erstarrt zu einem lebenden Bild: Das ist der Job, der sie ernährt. César bleibt vor ihr stehen, wirft eine Münze auf das Tuch zu ihren Füßen, fragt: „Habe ich mich so verändert?“ Regen setzt ein, verwischt die Schminke auf ihrem Gesicht. Sie löst sich aus ihrer Pose, lächelt ein wenig künstlich, fragt, wie es im geht. Er sagt: „Du willst mir nicht mehr ins Gesicht sehen.“ Sie geht auf ihn zu, streichelt seine von Narben entstellte Wange, dann wird der Regen stärker, und sie gehen auseinander, jeder geht seinen Weg.
Dieser Text ist zuerst erschienen in: ray Filmmagazin
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