Zwei Kinder, John und Pearl, sind auf der Flucht vor einem Mörder, tagelang treiben sie stromabwärts auf einem Kahn durch eine wuchernde Flusslandschaft, kämpfen gegen ihre Angst. Nachts ist der Himmel über ihnen eine schwarze Scheibe, in die sich am Horizont das metallene Weiß eines Lichtstreifens schiebt; als stechende Silhouetten heben sich Bäume, Hütten, Zäune vor ihm ab. Und der Schattenriss des Mörders, der am Ufer zu Pferde die Kinder verfolgt. Der Mörder singt. Er singt ein altes Kirchenlied, er singt von Trost und ewigem Frieden in Gott. Die Nacht ist so still, dass sich der Gesang von der Gestalt des Reiters abzulösen scheint, das Lied steigt zu den Sternen und überwölbt die Welt: „Leaning, leaning, leaning on the everlasting arms“. Der Sänger ist ein Heuchler, ein Wanderprediger, der durch die Lande zieht und den Leuten das Seelenheil verspricht, doch ihnen nach dem Leben trachtet und die Macht über sie erringen will.
Roger Ebert adelte „The Night of the Hunter“ (USA 1955) mehr als vierzig Jahre nach der Premiere zu einem der bedeutendsten amerikanischen Filme; sein Pech sei nur gewesen, dass die Kritiker ihn in keine Schublade stecken konnten und das Publikum seine waghalsigen Stil- und Genremischungen nicht goutieren mochte. Es sei gewiss „risky“ gewesen, schrieb Ebert 1996, Humor und Horror zu kombinieren und beide mit expressionistischen Mitteln zu überhöhen. Die erste Regiearbeit des großen Charakterdarstellers Charles Laughton war auch seine letzte – ein ähnliches Debakel wollte er nicht noch einmal riskieren. Aber: Was für ein zwingender, erschreckender und erschreckend schöner Film ist das doch, so Ebert. „And how well it has survived its period.“ Wie wahr! Aus dem Amerika der Depressionsjahre, in denen er spielt, strahlt er bis in unsere Zeit, in das amerikanische Wahljahr 2016. Nur sind aus wanderpredigenden Schurken wie jenem Harry Powell (Robert Mitchum) politische Fundamentalisten und Demagogen wie Ted Cruz und Donald Trump geworden – und aus den bigotten Kleinbürgern von 1930, die dem Heuchler zu Füßen liegen, die rasenden Wutbürger der Tea-Party.
Die Geschichte, die dieser Film erzählt, hat harte Konturen, und doch schwebt sie in einem Modus des Fantastisch-Irrealen, bebt zwischen Angst und Hoffnung, Terror und Erlösung, Wirklichkeit und Traum. John und Pearl finden Zuflucht bei der Witwe Rachel Cooper (Lillian Gish), die in ihrem Haus eltern- und obdachlose Kinder umsorgt: Wie im Märchen taucht ihre rettende Gestalt auf und verweist doch nur auf die bittere Realität, die sie bekämpft – moralische Verwahrlosung, physische Not und psychisches Elend in einem reichen Land. Und wie in einem märchenhaften Western entwickelt sich der Show down. Wieder ist es Nacht, im gleißenden Mondlicht liegt Rachel Coopers Holzhaus, draußen am Zaun lauert Powell, der mordende Prediger, und singt. „Leaning, leaning, safe and secure from all alarms…“ Im Haus schlafen die Kinder; auf der Veranda sitzt Rachel, das Gewehr auf dem Schoß. Es kommt zum Refrain, und was nun geschieht, ist so irritierend wie folgerichtig und durchkreuzt jede Norm, die Liturgie der Kirche und die Hollywoods zugleich. Beide, Powell mit seinen Mordgelüsten und Rachel, mit dem Finger ab Abzug, singen nun gemeinsam: „Leaning on Jesus, leaning on Jesus, safe and secure from all alarms; leaning on Jesus, leaning on Jesus, leaning on the everlasting arms.“
Der Kampf zwischen Gut und Böse als Duett – wohl eines der seltsamsten, die in einem Film gesungen wurden. Das Ende ist ordnungsgemäß: Powell, ins Haus eingedrungen, wird durch einen Schuss aus Rachels Gewehr verletzt und an die Polizei ausgeliefert.
Dieser Text ist zuerst erschienen in: ray Filmmagazin
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