„Ach, gnädigste Frau, sagen Sie nichts gegen die Jugend. Die Jugend, auch in ihren Fehlern ist sie noch schön und liebenwürdig.“ Das sagt mit sanft-sehnsüchtig klagendem Singsang der Apotheker Gieshübler (Hark Bohm) beim Antrittsbesuch zu der jungen, schönen, liebenswürdigen Effie Briest, die nun Frau von Instetten heißt (Hanna Schygulla). Gieshübler – schwarzer Anzug, schwarzes Halstuch, schwarze Handschuhe, den schwarzen Zylinder auf dem Schoß – sitzt wie ein Beerdigungsunternehmer da, auf einem weißen Sofa, links neben seinem Kopf der üppige Schenkel eines weißen Marmorknaben, rechts ist in einem Spiegel das Gesicht der Hausherrin im Profil zu sehen. „Persönlich kann ich in dieser Frage vielleicht nicht mitsprechen“, fügt er hinzu. Seine Augen sind hinter dicken Brillengläsern versteckt. „Personen meines Schlages sind nie jung. Das ist das Traurigste von der Sache. Man hat keinen rechten Mut, man hat kein Vertrauen zu sich selbst, die Jahre vergehen, man wird alt, und das Leben war arm und leer.“ Während er das sagt, senkt er sacht den Kopf und erstarrt, neben dem drallen Hintern der lebensfrohen Putte, zu einem Inbild vornehm disziplinierter Melancholie.
Gieshübler – sagt an dieser Stelle Rainer Werner Fassbinders Erzählerstimme mit dem Text Theodor Fontanes – hätte nun gern ein schwärmerisches Liebesgeständnis gemacht. „Da dies aber nicht ging“, nimmt er nur seinen schwarzen Hut, steht auf, verbeugt sich und zieht sich formvollendet zurück, „ohne ein Wort gesagt zu haben.“ Das fragt man sich immer wieder während dieses wunderbaren, mit genau kadrierten Schwarzweißaufnahmen und Weißblenden konstruierten Fassbinder-Bilderbogens „Fontane Effie Briest“ (1974): Warum „geht das nicht“? Warum geht es nicht, dass Menschen einfach abstreifen, was sie quält und bedrängt, dass sie ihre Fesseln sprengen, sich auflehnen und hinter sich lassen, was sie unterdrückt?
In der Küche der Instettens regiert die Haushälterin Johanna (Irm Hermann). Sie steht links im Vordergrund, schwarz gewandet, hoch geschlossen, zur Statue verhärtet, spitz und streng. Zwischen Herd und Tisch: die junge polnische Köchin (Barbara Lass), sie schält Gemüse, neben sich ein lebendes schwarzes Huhn. In die Stille hinein singt sie ein polnisches Lied, sie singt es leise vor sich hin, und sie singt es nur für sich. Im Hintergrund geht die Tür auf, fast unhörbar tritt Effie Briest ein, den Blick auf die Haushälterin gerichtet, diese wendet den Kopf über die Schulter zu ihr hin. Selbst in der Totalen ist zu sehen, dass Effie die Augen niederschlägt. Schnitt: die Kamera zeigt nah Johannas Gesicht. Ihre Augen, ihre herabgezogenen Mundwinkel drücken Tadel aus – eine Missbilligung, die sich ihren Zügen eingeschrieben hat, mit ihnen verwachsen ist. Rechts neben ihrem Kopf hängt an der Wand (und das ist nun fast überdeutlich) ein Fleischerbeil. Schuss-Gegenschuss: Effie und Johanna, sie starren sich an. Es fällt kein Wort. Schnitt auf die Köchin, sie schält und singt, jetzt ganz im Vordergrund das schwarze Huhn. Effie wagt einen Schritt in den Raum, flüstert: „Kann ich etwas…“ Sie wartet, dreht sich um, verlässt den Raum. Die Köchin schält und singt.
Ähnlich streng komponierte Schwarzweißbilder sind im deutschsprachigen Film erst Jahrzehnte später, in Michael Hanekes „Das weiße Band“ (2009), wieder zu sehen. Hier wie dort: Menschen, die sich aus den Panzerungen des Gesellschaftlichen nicht befreien können, an Atemnot zugrunde gehen. Aber „das Gesellschaftliche“ ist ein weites Feld. Fassbinder hat es genauer sagen wollen und seinem Film einen langen Titel gegeben: „Fontane Effi Briest oder Viele, die eine Ahnung haben von ihren Möglichkeiten und ihren Bedürfnissen und trotzdem das herrschende System in ihrem Kopf akzeptieren durch ihre Taten und es somit festigen und durchaus bestätigen.“
Dieser Text ist zuerst erschienen in: ray Filmmagazin
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