Filmtitel sind Glückssache, und wenn ausländische Titel eingedeutscht werden, kommt dabei nur allzu oft ein Unglück heraus. Man muss auf einiges gefasst sein. Dennoch war meine Überraschung groß, als ich neulich bei Wikipedia für Delmer Daves‘ film noir „Dark Passage“ (USA 1947) den geläufigen Titel „Das unbekannte Gesicht“ eingab und statt dessen zu „Die schwarze Natter“ weitergeleitet wurde. Für einen Augenblick befielen mich Zweifel an der Vertrauenswürdigkeit der Algorithmen. „Die schwarze Natter“ ist ein „Sensationsdrama“ von Franz Hofer aus dem Jahre 1913 (übrigens ein früher film noir par excellence!), aber offenbar haben sich schon die Eindeutscher um 1950 an diesen Stummfilm nicht mehr erinnert oder ihm den Titel einfach geklaut, um das Publikum an der Nase herumzuführen und sowohl die Anhänger des Tierfilms als auch die des Horrorgenres in „Dark Passage“ zu locken. In Österreich lief der Film unter dem Titel „Ums eigene Leben“, und in der DVD-Version hat die schwarze Natter bis heute überlebt, obwohl sich im Kino und in der Fernsehauswertung seit fünfzig Jahren die einigermaßen zutreffende Variante „Das unbekannte Gesicht“ eingebürgert hat.
Die Titelfrage ist von nicht geringer Bedeutung: In ihr verbirgt sich ein buchstäblich augenzwinkerndes Spiel nicht nur mit den Abgründen der Filmfabel, sondern auch mit der celebrity des Hauptdarstellers. Dem flüchtigen Häftling Vincent Parry hat immerhin Humphrey Bogart sein Gesicht geliehen, doch dieses bleibt uns in den ersten sechzig Minuten des Films verborgen. Wir sehen, dank einer brillant eingesetzten subjektiven Kamera (Sid Hickox), in den ersten Sequenzen nur das, was er selbst sehen kann: seine Finger, die sich an den Rand einer Tonne klammern; seine Hände, die ein Kleidungsstück im Gebüsch verstecken; seine Arme, an einen Bretterzaun gepresst; seine durchnässten Schuhe – und später seinen Freund George, der bald erschossen zu seinen Füßen liegen wird. Auch wenn die Kamera die Story aus objektiver Distanz weitererzählt, zeigt sie allenfalls seinen Rücken oder, im Fonds eines Taxis, sein tief verschattetes Gesicht. Parry, unschuldig wegen Mordes an seiner Frau verurteilt, ist aus San Quentin entflohen; um den Polizeihäschern und diversen Widersachern zu entgehen, entschließt er sich zu einer Gesichtsoperation, die sein Antlitz vollends unter einer Bandage verschwinden lässt. Bis ihn, nach der Heilung, Lauren Bacall liebevoll demaskiert.
Diese subtil verlangsamte, in ebenso zarte wie zärtliche Ironie gebettete Szene ist die schönste des Films. Behutsam geht Irene Jansen ans Werk; sie hat Parry auf seiner Flucht aufgelesen, ihm geholfen, ihn in ihrer Wohnung versteckt und ist im Begriff, sich in ihn zu verlieben. Nun will sie inspizieren, was aus dem chirurgisch erneuerten Objekt ihres Begehrens geworden ist. Wir sehen Parrys Kopf von hinten, Irene steht vor ihm, ihr Blick gleitet prüfend über die weiße Bandage, selbst ihr Lächeln bewahrt äußerste Disziplin. Sehr vorsichtig setzt sie die Schere an – „ich verspreche, dass ich Ihnen kein Ohr abschneide“ – , manipuliert Millimeter um Millimeter, Schicht um Schicht den Verband vom Kopf, tupft das Gesicht sorgsam ab – und betrachtet es mit einem langen, ernsten, fragenden, zwischen Spannung und Genugtuung schwebenden Blick. Dann stehen beide vor dem Spiegel, Parry betastet seine Wangen, Irene beobachtet, wie er sein neues Konterfei beäugt. Er sollte sich rasieren, meint sie. Lauren Bacall hat Hollywoods bekanntestes Gesicht freigeschält.
Dieser Text ist zuerst erschienen in: ray Filmmagazin
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