Das letzte Bild in François Ozons „Sous le sable“ (Unter dem Sand, Frankreich 2000) entlässt den Zuschauer zutiefst verstört. Eine Frau, noch nicht alt und nicht mehr jung, läuft über einen Strand. Der Himmel ist grau, der Strand menschenleer, nur in der Ferne steht, dicht am Wasser, eine männliche Gestalt. Es gibt nur den feinen weißgelben Sand, das Meeresrauschen, den grenzenlosen Himmel, und da ist die Frau (Charlotte Rampling), die läuft und läuft und immer kleiner wird, sie läuft auf die männliche Gestalt zu, doch bevor sie sie erreicht, wird das Bild schwarz.
Das Bild ist dreigeteilt: links die karg bewachsenen Dünen, in der Mitte der fahle Strand, rechts das Meer, die Schaumkronen auf den Wellen, klein im Hintergrund der Mann. Marie hat ihn wahrgenommen, als wäre sie aus einem Albtraum aufgewacht – sie läuft, zögernd zunächst, dann schneller in die Tiefe des Bildes, und während sie läuft, mischen sich in das Rumoren des Meeres verhalten ein paar Takte von Philippe Rombis Musik. Die Spur, die Maries Laufen in den Sand zeichnet, wird länger und länger, doch wenn sie selbst ganz klein geworden ist, fast so klein wie die Gestalt, auf die sie zuläuft, gibt es plötzlich einen Punkt, an dem zu erkennen ist, dass der Abstand zwischen ihr und dem Mann sich nicht verringern wird. Wir erkennen: Sie wird ihn nicht erreichen, der Abstand zwischen Marie und ihrem toten Ehemann Jean (Bruno Crémer) ist unendlich groß.
„Sous le sable“ ist ein Film über das Verschwinden. Über die Leere, genauer: die Leerstelle, die ein Verschwundener im Leben eines anderen Menschen hinterlässt. Und darüber, wie dieser andere Mensch versucht, die Leerstelle durch Leugnen, durch Nichtwahrhaben-Wollen aus dem Leben, aus der Welt zu schaffen. Für Marie ist Jean „nicht da“, aber er ist nicht tot. Charlotte Rampling spielt eine Frau, die sich selbst etwas vorspielt, die sich ihr Leben vorspielt, als wären seine Koordinaten nicht zerstört. Alles, was sie nach Jeans Verschwinden unternimmt, steht unter dem Vorbehalt eines „Als ob“: als ob es möglich wäre, wie zuvor ihrem Beruf als Dozentin nachzugehen, als ob es sich von selbst verstünde, ganz locker im Freundeskreis zu verkehren und mit einem anderen Mann zu schlafen. Und wie sie das spielt, wird immer deutlicher, dass sie eine unerträgliche, die Seele zerfressende Trauer in sich niederkämpft. Den Kampf gibt sie nicht auf, selbst dann nicht, als ihr die Polizei beweist, dass ihr Mann vor Monaten im Meer ertrunken ist.
Jemand ist da – und wenige Augenblicke später verschwunden: Ozon zeigt, wie unfasslich für uns die Wahrnehmung der Leerstelle, die Plötzlichkeit des Alleinseins sind, und seine Mittel sind die der äußersten Reduktion. Ein Drama der Lautlosigkeit, fast ohne Worte die Szene am sommerlichen Strand zu Beginn des Films: Marie liegt bäuchlings im Sand, Jean will schwimmen, er geht einfach aus dem Bild. Sie döst ein bisschen, Kinderstimmen wecken sie, sie blickt sich um, sieht, dass Jean nicht da ist, sie greift nach der Wasserflasche, trinkt, zieht ein Buch aus ihrer Tasche, liest, legt das Buch wieder hin, richtet sich auf, blickt um sich, blickt aufs Meer… Sie wird „unruhig“, und mit dieser Unruhe beginnt ihr Kampf. Sie verliert ihn erst im letzten Bild.
Dieser Text ist zuerst erschienen in: ray Filmmagazin
Hier geht’s zu allen „Magischen Momenten“.