Eine junge Frau wurde ermordet. Der ermittelnde Justizbeamte, Benjamín Esposito (Ricardo Darín), blättert in privaten Fotoalben, die Kamera schaut ihm über die Schulter auf die Fotos oder zeigt uns schräg von unten sein Gesicht. Er blättert vor und zurück, greift nach einem anderen Album, blättert erneut – das alles geschieht wie beiläufig, doch es ist Arbeit, sein Blick ist konzentriert. Der Ehemann der Ermordeten, Ricardo Morales (Pablo Rago), sitzt ihm gegenüber, kommentiert die Fotos, beschreibt die Situationen, in denen sie entstanden: „Da war sie siebzehn“, sagt er, und dies war auf dem Land, „ein Frühlingspicknick“. Wir sehen sein abgewandtes, nach innen gewandtes Denken, spüren seine Intelligenz und auch sein Staunen, wenn er sagt, er könne es noch immer nicht fassen, wie er dazu kam, „eine so schöne Frau anzusprechen“. Der Beamte blättert weiter, sie sprechen über die Todesstrafe, wäre sie eine gerechte Vergeltung, fragt Esposito – nein, sagt Morales, für diesen unbekannten Täter soll es „ein langes Leben voll unendlicher Leere sein“. Esposito hält kurz inne, blickt Morales an, als denke er über diese seltsamen Worte nach: „Ein langes Leben voll unendlicher Leere“.
Fotografien im Kontinuum bewegter Bilder enthüllen etwas Wesenhaftes, ihre technisch-ästhetische Qualität als stillgestellte Zeit. Mag sein, dass wir etwas in ihnen suchen, was unserem Gedächtnis entglitt und darauf wartet, wiedergefunden zu werden. Dann aber „finden“ wir unverhofft etwas, woran wir nie gedacht haben und was plötzlich wie eine jähe Erkenntnis, ein neuer Gedanke aufscheint. Roland Barthes hat es das punctum genannt, das beim Studium des Bildes „blitzartig“ auftaucht und von dem sich unser Blick nicht mehr abwenden kann – nicht, weil es die Kunst des Fotografen bezeugte, sondern weil es nur besagt, „dass es sich dort befand“.
Hier verleiht das punctum privater Fotos dem Außenstehenden einen detektivischen Blick. Im Film setzt leise, wie aus tiefem Grübeln kommend, Musik ein, während Esposito plötzlich ein Gruppenbild fixiert, es mit einem anderen, dann einem dritten vergleicht und schließlich fragt: „Wissen Sie, wer das hier ist?“ Die Kamera greift aus der Gruppe das Gesicht eines jungen Mannes heraus, zeigt es ganz nah und zoomt am Ende auf die Augenpartie.
„In ihren Augen“ (El secreto de sus ojos) heißt der Film des Argentiniers Juan José Campanella von 2009. In den Augen des Ermittlers weist das punctum, das ihn anstarrt, auf ein Verbrechen, verwandelt sich das Album, in dem er blättert, in einen Steckbrief, nachdem er entdeckt hat, dass der junge Mann, Isidoro Gómez (Javier Godino), auf allen Fotos die Frau von Morales, sein späteres Opfer, fixiert. Im Laufe weiterer Recherchen kann ihn Esposito der Tat überführen; Gómez wird zu lebenslanger Haft verurteilt, kommt jedoch nach kurzer Zeit wieder frei. In Argentinien haben die Generäle die Macht ergriffen, ihre Mordbanden finden für Kriminelle seines Schlages jederzeit eine passende Verwendung. Wenig später wird Gómez auf seinen Ermittler Esposito angesetzt, der seinem Anschlag nur zufällig entgeht. „In ihren Augen“ ist ein politischer Film, der die politischen Zusammenhänge nur andeutet und auf hehre Thesen verzichten kann, weil er das Politische exemplarisch auf ein punctum, auf eine blitzartige „Eingebung“ und einen Kamerazoom konzentriert.
Dieser Text ist zuerst erschienen in: ray Filmmagazin
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