Es ist darüber spekuliert worden, wieviel Hitchcocks Film „Vertigo“ (1958) seiner literarischen Vorlage, dem Kriminalroman „D’entre les morts“ (1954) von Pierre Boileau und Thomas Narjac, verdankt. Und spekuliert wurde auch, ob die beiden Autoren womöglich den Roman „Bruges-la-Morte“ des belgischen Symbolisten Georges Rodenbach gelesen hatten, der 1892 zuerst als Fortsetzungsroman im „Figaro“ erschienen war. Von diesem Werk wiederum weiß man, dass es Arthur Schnitzler zu seiner Erzählung „Die Nächste“ (1899) inspiriert hat, und wer auf der literarischen Spurensuche so weit gekommen ist, wird nicht zögern, noch einmal die Geschichte „Vera“ (1874) des exzentrischen Villiers de l’Isle-Adam zu lesen und sich daran zu erinnern, dass zu den Vorläufern all dieser Autoren und letztlich auch Hitchcocks kein anderer als Edgar Allan Poe mit seiner Erzählung „Ligeia“ (1838) gehört. An die Stelle der „alten und verfallenden Stadt am Rhein“ bei Poe tritt bei Rodenbach das in nebelschwangere Melancholie versunkene Brügge, bei Schnitzler die Fin de siècle-Stimmung Wiens, bei Hitchcock schließlich das in ewiger Sonne badende San Francisco. Überall aber geht es um eine tote Frau, um ihr Weiterleben in der Seelenwelt ihres Geliebten, um ihr geisterhaftes Wiedererscheinen – und um die von morbider Trauer verhangene Gemütsverfassung, in der die Lebenden durch eine unsicher gewordene Realität navigieren.
Rodenbach hat der Buchausgabe seines Romans Fotografien beigegeben – Bilder, die das einstmals blühende Brügge als Schattenreich und seine Gotik im Stadium der Todesstarre zeigen: eine sieche, dem Verfall ausgelieferte Stadt, in der Gespenster umgehen. Wie andere vorfilmische Medien des 19. Jahrhunderts, die Daguerreotypie etwa oder die Nebelbilder, hatte auch die frühe Fotografie eine Affinität zum Moribunden, zu depressiven Sujets und, dank der Doppelbelichtung, zum Augentrug diaphaner Geistererscheinungen. Kein Zufall, dass der bedeutendste Filmregisseur des zaristischen Russlands, Jevgenij Bauer, als erster Rodenbachs Brügge-Roman für das Kino adaptiert hat, „Gryozy“ („Tagträume“) heißt dieser knapp 38-minütige Film von 1915. Und schon kurz zuvor hatte er, nach einer Kurzgeschichte von Turgenjev, „Posle smerti“ („Nach dem Tod“, 1915) gedreht, einen Film, der seine Figuren konsequent auf der Grenzlinie zwischen Noch-Leben und Schon-Gestorbensein balancieren lässt.
Bereits zu Lebzeiten ist der junge Andrei Bagrov (Vitold Polonsky) ein Untoter, der sich nach dem Tod seiner Mutter in eine vom Plüsch des Second Empire und von schweren Ledersesseln möblierte Klausur der Schwermut zurückgezogen hat. Er erwacht auch nicht zum Leben, als er die schwarzäugig schmachtende Aktrice Zoia (Vera Karalli) kennenlernt. Eine Begegnung im verschneiten Park bricht er ab, bevor sie ein Anfang sein könnte. Er kehrt in seine abgedunkelten Gemächer zurück, und Zoia vergiftet sich in ihrer Theatergarderobe aus Liebeskummer. Andrei, ohne Trost, ist danach nur noch ein Schemen in der Welt: wie die Fotografie Zoias, in die er sich im Licht einer Laterna magica versenkt. Bis sie ihm selbst in seinen Träumen erscheint, ein bleiches Replikat aus dem Jenseits, doch ihm so nah, dass vor ihr alles Wirkliche zu entschweben scheint. Das Kino ist noch keine zwanzig Jahre alt, Bauer aber gelingt ein Stück film pur, reine Kinematografie, die sich in Licht und verlangsamte Bewegung auflöst, wenn Zoias Gestalt als weiße Epiphanie durch ein Weizenfeld gleitet und Andrei leblos in den Ähren liegt, in den Armen der trauernden Toten.
Dieser Text ist zuerst erschienen in: ray Filmmagazin
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