Am 8. Juni 2005 qualifizierte sich die Fußballnationalmannschaft des Iran in der dritten Runde der Asien-Gruppe B mit einem 1:0-Sieg gegen Bahrein für die Weltmeisterschafts-Endrunde in Deutschland. Das Spiel fand im Azadi-Stadion zu Teheran statt, der Regisseur Jafar Panahi hat darüber den Film „Offside“ gedreht, und spätestens seitdem dieser Film 2006 zu uns kam, wissen wir mehr über Fußball im Iran – vor allem darüber, was im Iran „Abseits“ heißt.
„Offside“ ist von Anfang bis Ende ein veritabler Fußballfilm – und das, obwohl man vom Spiel, großzügig geschätzt, höchstens zehn Sekunden sieht: eine leicht verwackelte, vom Sonnenlicht gebleichte Totale vom Spielfeld, ein paar Spieler laufen herum – Schnitt. Für zugenagelte Fußballfreaks ist dies leider der einzige magische Moment, der dadurch noch verdorben wird, dass im Vordergrund ein Soldat gegen einen Pfeiler lehnt und sich erschöpft den Schweiß aus der Stirn wischt. Erschöpft ist er, weil er erfolglos durch das halbe Stadion hetzte, um ein junges Mädchen, das sich seiner Bewachung entzogen hatte, wieder einzufangen. Wer im Iran Soldat ist, hat nämlich viel damit zu tun, als Jungs verkleidete Mädchen und junge Frauen, denen es gelungen ist, sich ins Stadion zu mogeln, um ein Fußballspiel zu sehen, zu schnappen und in einem provisorischen Käfig bis zum Spielende gefangen zu halten, um sie danach der Sittenpolizei zu überstellen.
Wie verhalten sich leidenschaftliche Fußballmädchen unter militärischer Bewachung? Nicht anders als nervöse Hummeln, die ihr Nest nicht verlassen können: eingezwängt zwischen Absperrgittern und einer Betonwand, die sie vom Inneren der Arena trennt: jener riesigen Schale, aus der Sprechchöre dröhnen, Schlachtgesänge zum Himmel steigen, Anfeuerung anschwillt und stöhnend verebbt, bis das erlösende Tor fällt und die gewaltige Betonschale zu bersten droht. Absurde Situationen treiben erfindungsreiche Lösungen hervor. Ein Soldat erhascht einen Blick aufs Spielfeld und muss, ohne die blasseste Ahnung vom Fußball, für die Mädchen die Rolle des Radioreporters übernehmen. Und was geschieht, wenn eine der Gefangenen ganz dringend auf die Toilette muss? Auf eine Toilette, die selbstverständlich nur für Männer vorgesehen ist? Ganz einfach – einer der Bewacher hängt ihr ein Poster mit dem Antlitz eines Fußballidols vors Gesicht und scheucht alles, was männlich ist, aus der Gefahrenzone, weil der Prophet verfügt haben soll, dass der Teufel seine Machenschaften treibt, wenn sich die Blicke eines Mannes und einer Frau begegnen und womöglich Neugier, wenn nicht gar mehr im Spiel ist.
Was aber, wenn plötzlich ein alter Mann (Reza Farhadi) herbeischlurft, der seine entlaufene Enkelin sucht? Wenn er zögernd vor dem Käfig stehen bleibt und sein Blick auf einem Mädchen verharrt, das den Kopf senkt, Augen, Stirn und buntbemalte Wangen unter der Baseballkappe versteckt? „Ich will dein Gesicht sehen!“ Sie wendet sich ab und zieht, unversehens, einen Tschador über ihren Kopf, über ihre ganze schmale, noch kindliche Gestalt. „Bist du das wirklich?“ Langsam geht sie auf den Alten zu. „Was hast du mit deinem Gesicht gemacht?“ Und so, wie sie jetzt da steht, verhüllt, schwarz wie die Nacht, ein kleiner, aber tapferer Unglücksrabe – ist das nicht wirklich und wahrhaftig ein magischer Moment?
Dieser Text ist zuerst erschienen in: ray Filmmagazin
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