Im Dunkeln lauern Gefahren, lauert das Verbrechen, das Unheil mit seinen vielen Gesichtern und Masken – und Düsternis umgibt die Gefährlichen, die Verbrecher, diejenigen, die auf Raub, Mord und Totschlag sinnen. Ihr Aufenthaltsort sind Schattenzonen, Hinterhöfe, die von Kindern, Greisen, Hungerleidern und Halunken besiedelt werden. Menschen, die sich zwischen den Mauern wie Gefangene bewegen. Müll türmt sich hier, Bretterverschläge versperren die Sicht. Wer Böses im Schilde führt, scheut helle Flächen, jeden Lichteinfall, zieht die Hutkrempe tief ins Gesicht, vermeidet den offenen, dem Tag zugewandten Blick. Der Gefahr ihr Geheimnis, der Finsternis ihre Konturen zu entlocken – das ist die Aufgabe der Filmkamera. Sie schickt Licht in das opake Milieu, gibt dem Unheil, das sich vage anbahnt, ein Gesicht.
Snapper Kid heißt der Oberschurke (Elmer Booth). Ein halbdunkler Hausflur, die angrenzende Spelunke und ein unübersichtlicher Backyard irgendwo in der Bronx sind sein Revier. Schon wie er lungert und lauert, lässt die ehrbaren Nachbarn erschauern. Selbst wenn er sich den Anschein kindlicher Unschuld gibt, flackern List und Frechheit in seiner Miene, kann er seine Lust am bösen Spiel nicht verbergen. Nicht nur, dass er den bettelarmen Musikus (Walter Miller) niederschlägt und ihm seine letzte Barschaft raubt, auch dessen junge Frau (Lillian Gish) begehrt er auf seine rabiate Weise: wie Stückgut, das man gewaltsam an sich reißt und achtlos konsumiert. Doch Snapper Kid hat Feinde – eine Gang, die ihm und seinen beiden Spießgesellen das Terrain streitig macht. Im Hof, zwischen allerlei Gerümpel, stellt er sich dem Showdown.
Im Hintergrund, in der Lücke zwischen zwei Backsteinmauern, schiebt sich zunächst sein Kopf in die Szene, dann seine ganze Gestalt. Er presst sich seitlich an die Mauer, als wolle er in ihr verschwinden, verbirgt sich hinter einem Wandvorsprung, während seine Kumpane nachrücken, und sondiert das Schussfeld. Ein Zwischenschnitt zeigt: Genau gegenüber hat sich die feindliche Gang aufgebaut. Die Hand um den Revolver gekrampft, schiebt sich Snapper-Kid Zentimeter um Zentimeter nach vorn, immer näher an die Kameraposition heran, bis sein Snapper Kid-Gesicht, wächsern bleich unter schwarzem Hut, die rechte Bildhälfte füllt. Im Hintergrund, unscharf, eine Brandmauer und die Visage eines Komplizen.
„The Musketeers of Pig Alley“ (1912) ist einer von über fünfhundert Kurzfilmen (zwischen 15 und 20 Minuten Länge), die David Wark Griffith in den Jahren 1908 bis 1914 für die American Biograph dreht – jenen „Biograph Shorts“, in denen er die Welt zwischen Gerecht und Ungerecht, Tätern und Opfern aufteilt und das Werk- und Schreibzeug, die Grundregeln, die kalkulierten Finessen und überraschenden Tricks filmischen Erzählens ausprobiert – bis er alles, was er ausgetüftelt hat, in sein erstes großes Epos, „The Birth of a Nation“ (1915), einmünden lässt: den schnellen Wechsel des point of view und die Parallelmontage, das Kamera-Traveling und das komplexe Spiel mit close-ups. Mit jenen Gesichtern, die sich, zunächst klein und heimtückisch, aus dem Dickicht des Milieus herausschälen, immer größer werden und am Ende den Zuschauer, wie Jacques Aumont geschrieben hat, „mit brutraler Direktheit anspringen“ – so wie sich Snapper Kid seine Opfer schnappt.
Dieser Text ist zuerst erschienen in: ray Filmmagazin
Hier geht’s zu allen „Magischen Momenten“.