Die Rückblenden schweben in die erzählte Gegenwart, als schiebe sie eine unsichtbaren Hand, die sorgsam Bilder und Gedanken sortiert, in den Fluss des Geschehens. Andere kommen hereingeweht wie Assoziationen, Kurzfilme der Erinnerung, Kurzgeschichten eines aufblitzenden Gewahrwerdens, die dem inneren Drama psychologische Tiefenschärfe verleihen. Einer dieser Kurzfilme könnte „Die Geschichte der Thérèse“ überschrieben sein, und sie beginnt so: Die Kamera blickt auf einen großen leeren Dorfplatz; links, den Platz begrenzend, sind die Grundmauern einer grauen gotischen Kirche zu sehen; daneben führt eine Straße leicht abschüssig zu Häusern im Hintergrund. Vor der Kirche steht ein Baum, eine Akazie könnte es sein, rechts ein altes Gebäude, vielleicht die Sakristei. An ihrer Wand lehnt Betty, ein halbwüchsiges Mädchen. Ein Geistlicher strebt eilends quer über den Platz. Dünnes Glockengeläut ist zu hören, es ist Samstag, ein Samstagnachmittag in der französischen Provinz, wie ihn mit seiner vibrierenden Langeweile nur Claude Chabrol (hier in „Betty“, 1992) in einer einzigen Einstellung einzufangen vermochte.
Die folgenden Bilder zeigen, wie das Mädchen, angelockt von unterdrückten rhythmischen Schreien und dem Klirren leerer Flaschen, eine Kellertreppe hinabsteigt und im Halbdunkel zur Zeugin einer Vergewaltigung wird. Ihr Onkel, so erzählt sie Jahre später, war dabei, das Dienstmädchen Thérèse „zu bespringen“. Betty bleibt starr, „wie hypnotisiert“, auf der Treppe stehen; weder will noch kann sie sich von der Szene trennen: „Ich wollte bis zum Schluss bleiben.“ Der Medizinstudent Schwarz (Thomas Chabrol), in den sich Betty als verheiratete Frau (Marie Trintignant) verliebt, sieht die Angelegenheit psychoanalytisch: Sie habe Thérèse beneidet, erklärt er ihr, korrigiert sich aber kurz darauf: „Du glaubtest, eine Frau sei dazu bestimmt, für einen Mann zu leiden.“ Dem stimmt Betty zu. Erst im Gespräch mit ihrer Beschützerin Laure (Stéphane Audran), wiederum Jahre später, wird sie dessen inne, dass sie darauf begierig war, die „Wunde“ von Thérèse zu sehen – und dass sie in all den Jahren, die folgten, selbst auf der Suche nach dieser „Wunde“ war.
Genau genommen ist die Kurzgeschichte, die Chabrol hier in wenigen Minuten erzählt, ein philosophischer Essay über das Gewicht des Vergangenen im Leben der Menschen – über die Verschränkungen dessen, was war, mit dem, was wir unser Hier und Heute nennen. Drei Zeitebenen werden aufgefaltet. Sie verbinden sich zur Autonomie der filmischen Zeit, ohne jedoch die Differenz zwischen der Gegenwart der Erzählung und dem Material der Erinnerungen zu verwischen. Im Kino folgt die Rückblende nicht selten einer allzu simplen Logik – oder sie sieht wie ein manieristisches Virtuosenstück aus. Anders bei Chabrol: Er setzt auf die Poesie der gleitenden Übergänge, nicht der konstruierten „Verschachtelung“. Er scheut nicht das Komplizierte – Bettys Kindheitserfahrung auf dem Lande etwa wird mit einer Rückblende in der Rückblende evoziert. Doch auch das Komplizierte wirkt einfach, weil Chabrol es wie beiläufig und mit leichter Hand praktiziert: Es geht um extreme Gefühle, aber sie werden nicht ausgestellt, sie finden sich eingearbeitet in einen intelligenten Diskurs.
Dieser Text ist zuerst erschienen in: ray Filmmagazin
Hier geht’s zu allen „Magischen Momenten“.