Eine Mordszene, nah und halbtotal: Eine junge Frau wird von einem Priester geknebelt, zusammengeschlagen und brutal auf einen Stuhl gezerrt, ein gezielter Handgriff bricht ihr das Genick. Es gebe keine weiteren Zeugen, sagt der Geistliche zu Pater Manolo, seinem Vorgesetzten. Und Gott? „Ja, aber den haben wir auf unserer Seite.“ Stimme aus dem Off: „Cut!“ Total: Ein Filmstudio, das Team löst sich aus seiner Erstarrung, die Einstellung ist im Kasten, Erleichterung, Drehpause auf dem Set. Im Hintergrund hockt die Hauptdarstellerin, in sich zusammengesunken, sie weint. Der Regisseur tätschelt ratlos ihren Arm, eine Assistentin kümmert sich um sie. Die Kamera fährt sehr langsam zurück, entfernt sich von der Szene, während die schwermütige Musik von Alberto Iglesias anschwillt und die Studiogeräusche allmählich verdrängt.
Nichts ist eindeutig, und alles ist anders. Der Regisseur, Enrique, verfilmt eine Geschichte aus seiner Kindheit in einem spanischen Klosterinternat, späte Franco-Ära. Die Hauptdarstellerin ist keine Frau, sondern der Schauspieler Juan, der sich als seinen transsexuellen Bruder Ignacio ausgibt und vortäuscht, ihn, das heißt: sich selbst zu spielen. Ignacio und Enrique übten sich einst im Internat in vorpubertären Liebesspielen, und auf Ignacio hatte es damals auch der Schuldirektor, Pater Manolo, abgesehen. Die Mordszene ist eine Fiktion des Drehbuchs – und zugleich fiktional maskierte Realität: tatsächlich wird Manolo der geheime Drahtzieher sein, wenn sich Ignacio, viele Jahre später, mit einer Überdosis Heroin unfreiwillig den goldenen Schuss verpasst. Ignacio, der sich als Transvestit Zahara nennt, stirbt zwei Tode, Pater Monolo mutiert in seiner zweiten Karriere zum Buchverleger Berenguer, und Juan, der sich als Ignacio ausgibt, besteht als Schauspieler auf dem Namen Ángel.
Pedro Almodóvar hat mit „La mala educación“ („Schlechte Erziehung“, 2004) ein ingeniöses, in sich verspiegeltes und verschachteltes Vexierspiel eingerichtet, das nicht durch Nebelkerzen und faulen Zauber, sondern durch seine kristalline Struktur besticht. Seine magischen Momente verdanken sich dem Aufbau, entspringen dem präzisen Gleiten zwischen Zeitebenen, wechselnden Identitäten, berechneten Selbstzuschreibungen, zwischen gewünschter und gescheiterter Wirklichkeit. Den multiplen Charakteren entspricht Almodóvars Besetzungsstrategie: Gael García Bernal spielt nicht nur Ángel/Juan, sondern auch Zahara, das zweite Ich seines Bruders Ignacio (Francisco Boira). Pater Manolo (Daniel Giménez Cacho) wird als Lektor Berenguer von Lluís Homar verkörpert, und auch der Regisseur Enrique (Fele Martínez) überantwortet den eigenen Part, den er in der Geschichte spielt, dem Darsteller Alberto Ferreiro.
„Film im Film“ ist hier kein dramaturgischer Kunstgriff – und alles andere als ein sinnverwirrender Effekt. Wenn Juan im Studio zusammenbricht, weint er über Ignacios Tod und über die eigene Schuld: Auch er war ja in den Mord an seinem Bruder verstrickt. Und wenn sich die Kamera langsam zurückzieht, Künstler und Techniker das Studio verlassen, die Lichter ausgehen und das Atelier im Halbdunkel liegt, ist es, als blicke der Film selbst voller Trauer auf die Trümmer und zerbrochenen Seelen seiner Welt.
Dieser Text ist zuerst erschienen in: ray Filmmagazin
Hier geht’s zu allen „Magischen Momenten“.