Warum rennt die Menschheit eigentlich seit mehr als hundert Jahren ins Kino und hat daran bis heute, aller Medienumbrüche und kulturellen Verwerfungen ungeachtet, ihren Spaß? Vielleicht, weil die meisten Kinogeschichten wie eine Zwiebel funktionieren: Man schält und schält sie unermüdlich, bis man an den Kern, an die Urgeschichte gelangt, an die eigentlich etwas abgedroschene, aber ungeheuer variantenreiche Story „boy meets girl“. Den wechselnden Genres, subtilen narrativen Techniken und immer neuen visuellen Sensationen, die sich wie Zwiebelschalen um sie legen, hält sie unverwüstlich stand. Sie ist (seitdem überhaupt Geschichten erzählt werden) jenes Prinzip, das Figuren und Verhältnisse in Bewegung setzt und gleichzeitig die Welt, die stets zu zerbrechen droht, im Innersten zusammenhält.
Schon unter dem Vorspann geht es los: Paris, es ist Frühling, ein Mann mittleren Alters, graublauer Anzug, sitzt im Park, Rummelplatzmusik von einem Karussell in der Nähe, der Mann beißt in einen Schokoriegel. In seinem Blickfeld, zehn Meter entfernt an einem Eisengitter, steht eine junge Frau, mit dem Rücken zu ihm, im Hintergrund ein Bahnhof, die junge Frau interessiert sich offenbar für die einfahrenden Züge. Der Mann taxiert ihre Gestalt, verzehrt den Rest des Schokoriegels, während sich die Frau, seinen Blick spürend, zu ihm umdreht und sich wieder abwendet, dabei wie unabsichtlich an ihrem Rock nestelt. Dann blickt sie sich noch einmal um, aber jetzt über die andere Schulter. Der Mann schaut schnell nach rechts, dann nach links, steht auf, macht einen Schritt, bleibt einen Moment stehen, setzt sich wieder, scheint kurz zu überlegen, steht wieder auf und geht nun langsam auf die junge Frau zu. Halbtotal: Sie blickt noch immer angestrengt durch die Gitterstäbe, er legt ihr mit etwas linkischer Entschlossenheit von hinten eine Hand auf die Schulter, als trainiere er, wie man von einer Sache Besitz ergreift. Während sie sich langsam umdreht, weiß der Zuschauer, dass sie seine Annäherung sehr genau wahrgenommen hat. Der Mann sagt: „Sie warten auf jemanden, den es gar nicht gibt.“ Sie: „Das wäre schon möglich.“ Eine Detailaufnahme zeigt, wie der Mann seine Hände knetet. Er: „Trinken wir was?“ Sie: „Ich habe nichts dagegen.“ Ihre Gesichter sind jetzt groß im Bild.
Schlichter, so könnte man meinen, geht’s nimmer. Aber so beginnt Michel Devilles Film „Le mouton enragé“ („Das wilde Schaf“). Ein Film von 1974, das erklärt viel: Jane Birkin sieht in ihrem kurzen roten Plissee-Röckchen, ihrer weißen Bluse und mit wallenden dunklen Haaren wie ein Schulmädchen aus, und Jean-Louis Trintignant, der einen schüchternen Bankangestellten spielt, blickt mit seinem filigran-undurchdringlichen Buster Keaton-Gesicht so ausdruckslos in die Welt, als denke er darüber nach, warum Banknoten immer viereckig sind. Dabei wird er im Verlauf dieser turbulenten, etwas zu schick und gefällig gemachten, doch überaus unterhaltsamen Tragikomödie auf der Karriereleiter gesellschaftlicher, politischer, amouröser und finanzieller Erfolge beachtliche Höhen erklimmen – und die Story „boy meets girl“ subtilste Windungen und Wendungen offenbaren, abgründigste Ironien, ihr Spiel mit der Lüge und ihre Affinität zu Gewalt und Tod. So ist es eher ein raffinierter Trick, wenn Deville am Anfang seines Erotikons, das die Vielfalt des unerschöpflichen Themas durchdekliniert, den magischen Moment auf seine einfachste Formel bringt: Frühling in Paris, Rummelplatzmusik.
Dieser Text ist zuerst erschienen in: ray Filmmagazin
Hier geht’s zu allen „Magischen Momenten“.