Inherent Vice – Natürliche Mängel

(USA 2014; Regie: Paul Thomas Anderson)

California Über Alles!

„Manche meinten vielleicht, ihn zu erkennen, aber alles blieb im Ungefähren, wie vom Dopenebel getrübt.“ Macht man Lesetempo und Lesevergnügen zum Maßstab, dann legte Thomas Pynchon mit „Natürliche Mängel“ nicht nur sein flottestes und zugänglichstes Buch seit „Vineland“ vor, sondern zudem einen Roman, von dem man sich ernsthaft vorstellen konnte, er wäre, abgesehen von einigen sicher notwendigen Kürzungen, tatsächlich verfilmbar. Besser natürlich als vielstündige Fernsehserie! Das mit der Verfilmbarkeit hat Gründe, aber dazu später. Überdies korrespondierte „Natürliche Mängel“ auf vielfältige Weise motivisch mit „Vineland“, insofern es Pynchon ein weiteres Mal erfolgreich gelang, einen historischen Kosmos zu generieren, der eine implizite Beziehung zur Gegenwart augenzwinkernd herstellt – und sei es eben nur über eine blasse Erinnerung an eine bestimmte TV-Serie wie „Dr. med. Marcus Welby“. Überdies könnten Alter und Erinnerungsvermögen des Lesers eine zentrale Rolle dabei spielen, welches Vergnügen Roman wie Verfilmung bereiten. Denn Pynchon, mittlerweile auch schon weit über 70, entwarf in „Natürliche Mängel“ ein Bild von Los Angeles an der Schwelle zu den 1970er Jahren, allerdings hindurch erzählt über die populären Bilderwelten der hard boiled novels von Hammett, Chandler & Co. und der Films noir der 1940er und 1950er Jahre, die ihrerseits ja ihre Retro-Phase zweimal hinter sich haben.

Damit wiederholte der Roman eine Geste, die bereits einigen der schönsten Produktionen des New Hollywood wie „The Long Goodbye“, „Chinatown“ oder „Night Moves“ innewohnte – und die bereits von Filmen wie „L.A. Confidential“ oder „Black Dahlia“ gecovert worden ist. Ein ganzer Haufen von Bildern, Spiegelungen und Verweisen liegt zum kreativen Gebrauch herum. Ganz schön kompliziert? Es wird noch besser, denn Paul Thomas Anderson (geboren 1970), der sich schon mit „Boogie Nights“ ziemlich erfolgreich an den 70er Jahren abgearbeitet hat, nutzt seinerseits Pynchons Roman, um sich wiederum vor dem Spirit von „New Hollywood“ zu verbeugen. Es fehlt eigentlich nur ein Cameo von Elliot Gould, um das seltsam vermittelte Pastiche einer verblassten Erinnerung an „The Long Goodbye“ perfekt zu machen.

Anderson ergreift die Chance, die seit Jahren grassierende Mode der perfekt durchchoreografierten Thriller, die am Ende keine Frage offenlassen, zu dekonstruieren, indem er sich im besten Sinne für Komplett-Vernebelung entscheidet. Richtig: man sollte schon etwas an Pop-Wissen und etwas an Pynchon-Lektüre mitbringen, um den ständig bekifften Privatdetektiv Larry »Doc« Sportello auf seinen Wegen durch Los Angeles angemessen begleiten zu können. Vielleicht reicht auch ein „Contact High“ hin, denn der Film steckt an den Rändern der Cadrage voller seltsamer Halluzinationen.

Wie bei Chandler bringt eine Frau die ganze Geschichte in Gang: Sashta Fay Hepworth, die gerne einmal ein altes, zerschlissenes Country Joe & The Fish-T-Shirt trägt, macht ihren Ex-Lover Sportello auf den Fall des verschwundenen Baulöwen Mickey Wolfman aufmerksam. Der ist Jude, will aber gerne Nazi sein, hat sich ein paar Rocker von der Arischen Bruderschaft als Leibwache gemietet und schätzt es sehr, wenn man seinen Nachnamen mit Doppel-“n“ schreibt. Schnell wird der Fall unübersichtlich: korrupte, gewaltbereite und zugleich manisch depressive Hippie-Hasser-Polizisten wie »Bigfoot« Björnsen (Josh Brolin legt die Rolle als quadratschädelige Comicfigur an, die nebenher ihr Einkommen durch Werbung und Statistenrollen aufbessert) machen dem Detektiv, den man allzu leicht unterschätzt, das Leben schwer. Ein ermordeter Bodyguard, ein verschwundener, vielleicht toter, vielleicht aber auch nur unter neuer Identität lebender Saxophonist der wenig erfolgreichen Surf-Band Boards verkomplizieren die Ermittlungen.

Anderson gelingt es meisterhaft und souverän die mit dem Jahr 1970 verbundene kulturelle Umbruchphase abstrakt zu skizzieren – aber eben nicht mehr als eine vage Skizze: es ist eine Zeit der Ungleichzeitigkeiten. Woodstock liegt gerade mal ein knappes Jahr zurück, doch aktuell halten die Manson-Morde die Polizei in Atem. Das Establishment setzt auf Restauration und im Hintergrund laufen Immobilien- und Drogengeschäfte. Straight is hip. Der Hippietraum ist ausgeträumt; der von Radiohead Johnny Greenwood besorgte Soundtrack stammt nicht von Jefferson Airplane, Jimi Hendrix oder Sly & The Family Stone, sondern von Can oder Neil Young. Journey through the Past. Der Kater ist mit Händen zu greifen.

Der Film erzählt davon, wie der Underground durch FBI-Spitzel infiltriert wird und von einer geheimnisvollen Organisation von Zahnärzten, die Drogenhandel und Entzugskliniken in einer Hand betreibt. Und vor der Küste liegt der Schoner „Golden Fang“ mit seinen roten Segeln, von dem nie ganz klar wird, in welcher Beziehung er zur Handlung steht. So kippt die Hippie-Detektiv-Geschichte um in ein Requiem für die nur noch schwach erinnerten Träume des gegenkulturellen Aufbruchs der 60er Jahre. In den Garten, von dem Joni Mitchell in „Woodstock“ (durch Fernsehbilder inspiriert!) sang, führte schon 1973 kein Weg zurück; der Traum der großen Gemeinschaft scheint ausgeträumt – nur ein paar Versprengte träumen noch „angetrieben von Dope und Frechheit, allgemeiner Menschenliebe und guter Stimmung“ (Pynchon) von einer besseren oder zumindest lässigeren Welt.

Detektiv Sportello, der als sympathischer, allerdings etwas exzentrischer Loser eingeführt wird, wird im Laufe der Handlung immer mehr zu einer Chandler-Figur, die fast instinktiv die richtigen Verbindungen herstellt und letztlich durchaus professionell seinen Job erledigt. Während die Welt um Sportello herum einen falschen Weg wählt, bleibt der Ermittler letztlich immer ein Idealist, der seine kleinen Beiträge leistet, die Welt in Ordnung zu bringen. All dies und noch viel mehr erzählt „Inherent Vice“ mit mal sanfter Ironie, mal bitterem Humor oder auch mit einer Portion Slapstick. Einmal versucht es Sportello doch tatsächlich mit Action, will der Polizei entkommen, indem er den Fluchtweg über ein Auto wählt. Doch er bleibt bereits an der Stoßstange hängen, rollt von der Motorhaube herunter und wird dann fürchterlich verdroschen. Die Szene erinnert ein wenig an ein Kind, das der väterlichen Züchtigung zu entkommen versucht und dabei scheitert.

Wie einst bei Chandler in „Der lange Abschied“ verschwinden Menschen in Kliniken und Psychiatrien, werden komplexe Intrigen ausgeheckt – und am Ende wird all dies immer nur durch Machtgeilheit und Habgier befeuert. „Inherent Vice“, der Film, weitet im Gegensatz zu Pynchons Roman nicht den Blick aufs große Ganze, redet nicht von Vietnam und technologischem Fortschritt. Er verharrt in seiner kleinen kalifornischen Welt, die schon unüberschaubar ist – und mehr als einmal den Eindruck erweckt, hier spielten ein paar kindlich gebliebene Erwachsene noch einmal „Detektivfilm“, wie sie es aus ihrer Jugend erinnern. Abstrakt und tongue-in-cheek zugleich.

Benotung des Films :

Ulrich Kriest
Inherent Vice - Natürliche Mängel
(Inherent Vice)
USA 2014 - 148 min.
Regie: Paul Thomas Anderson - Drehbuch: Paul Thomas Anderson, Thomas Pynchon - Produktion: Paul Thomas Anderson, Daniel Lupi, Joanne Sellar, Eli Bush, Adam Somner - Bildgestaltung: Robert Elswit - Montage: Leslie Jones - Musik: Jonny Greenwood - Verleih: Warner Bros. GmbH - FSK: ab 16 Jahren - Besetzung: Joanna Newsom, Katherine Waterston, Joaquin Phoenix, Jordan Christian Hearn, Taylor Bonin, Jeannie Berlin, Josh Brolin, Eric Roberts, Serena Scott Thomas, Maya Rudolph, Martin Dew, Michael Kenneth Williams, Hong Chau, Shannon Collis, Christopher Allen Nelson
Kinostart (D): 12.02.2015

DVD-Starttermin (D): 25.06.2015

IMDB-Link: http://www.imdb.com/title/tt1791528/