Hugo Cabret

(USA 2011; Regie: Martin Scorsese)

Träume werden aus Filmen gemacht

Das Thema scheint in der Luft zu liegen. Ähnlich wie Michel Hazanavicius in seinem „The Artist“ sucht auch Martin Scorsese in seinem neuen Film eine Auseinandersetzung mit der Frühzeit des Kinos. Doch anders als sein französischer Kollege verwendet er nicht die Form des Stummfilms, sondern nutzt ganz im Gegenteil mit 3D die neuesten technischen Möglichkeiten.

Der Film beginnt mit einer grandiosen Kamerafahrt über die Dächer des verschneiten Paris, fährt auf einen Bahnhof zu und steuert den Zuschauer durch die Menschenmenge in der Bahnhofshalle. Fast möchte man glauben, die entfesselte Kamera sei neu erfunden worden. Dieser Beginn zeigt, dass hier ein Filmemacher am Werk ist, der begriffen hat, wozu die 3D-Technik genutzt werden kann. Aber ist dieser Film wirklich von Martin Scorsese? Die letzten Zweifel verschwinden erst, wenn die lange Kamerafahrt ihr Ziel erreicht: Zwei Augen, die aus einem Versteck im Inneren der riesigen Bahnhofsuhr das bunte Treiben unter ihr beobachten. Diese Augen ziehen sich wie ein Leitmotiv durch den ganzen Film. Die Assoziation zu einer ähnlichen Szene am Beginn von „Goodfellas“ stellt sich fast zwangsläufig ein. In beiden Fällen gehören die Augen einem halbwüchsigen Knaben, der das Leben, von dem er ausgeschlossen ist, beobachtet, als sähe er auf eine Bühne oder eben auf eine Leinwand. Und wie man von Martin Scorsese weiß, haben diese Szenen einen biografischen Kern, denn ebenso stand der junge Martin, dessen Krankheit ihn zum Stubenhocker verurteilte, einst am Fenster der elterlichen Wohnung in Little Italy und verfolgte das Treiben auf der Straße.

Die Perspektive des heimlichen Beobachters, eine Rolle, die auch der Kinobesucher einnimmt, weckt Assoziationen an einen anderen Klassiker der Filmgeschichte, an Alfred Hitchcocks „Fenster zum Hof“. Und wie dort gibt es auch in „Hugo Cabret“ eine Reihe von wiederkehrenden Szenen, die Geschichten in der Geschichte erzählen: Ein alter Mann, dessen Avancen für eine alleinstehende Dame regelmäßig an der Bissigkeit ihres Hündchens scheitern, oder die scheue Liebe des kriegsversehrten Bahnhofinspektors für die hübsche Blumenverkäuferin.

Die eigentliche Geschichte ist jedoch die des Waisenjungen Hugo Cabret, der die Uhren des Bahnhofs in Gang hält. Lange Zeit weiß niemand davon, dass der Junge allein ist, und sein Versteckspiel vor dem Bahnhofsinspektor, eine sehr untypische aber gelungene Rolle für Sacha Baron Cohen, dominiert die Handlung in der ersten Hälfte des Films, bevor sich später sein Fokus verschieben wird.

Hugo lebt in einer Welt hinter der Welt, er lebt in den Räumen und Gängen hinter und über der Bahnhofshalle. Er bewegt sich zwischen den Rohren und gigantischen Zahnrädern, die diese Welt am Funktionieren halten. Damit nicht genug, ist sein eigentlicher Lebensinhalt ein Schreibroboter, ein mechanischer Mensch, den er von seinem verunglückten Vater erbte und den er reparieren will. Die nötigen Teile stiehlt er im Vorbeigehen bei einem alten Spielzeughändler (Ben Kingsley), bis er eines Tages ertappt wird und der Händler ihm das Notizbuch seines Vaters wegnimmt. Bei seinen Versuchen, das Buch zurückzuerhalten, findet Hugo die Unterstützung von Isabelle, der Pflegetochter des Alten, einer Waisen und Außenseiterin wie er selbst. Die beiden Kinder, denen das Leben eine unbeschwerte Kindheit verweigerte, lieben das Abenteuer und ziehen die Welt der Fantasie der öden Wirklichkeit vor.

Eines Nachmittags schleichen sich Hugo und seine Freundin in ein Kino, wo gerade Harold Lloyds „Ausgerechnet Wolkenkratzer“ läuft, mit der berühmten Szene, in der Lloyd an einem Uhrzeiger über den Straßenschluchten baumelt. Es ist wahrscheinlich unnötig zu erwähnen, dass wenig später Hugo ebenso an einem riesigen Zeiger der Bahnhofsuhr über den Straßen von Paris hängen wird.

Sein eigentliches Thema findet der Film, wenn der Zuschauer erfährt, dass der alte Spielzeughändler niemand anderes ist als Georges Meliés, der Pionier des Kinos. Doch Meliés ist zur Zeit der Handlung, Anfang der dreißiger Jahre, weitgehend vergessen, und schlimmer noch, er verdrängt seine Vergangenheit so erfolgreich, dass er selbst sie vergessen zu haben scheint. Die Verbindung zwischen Hugo Cabret und Meliés ist vielschichtiger als es zunächst den Anschein hat, wobei dem Maschinenmenschen im wahrsten Sinn des Wortes eine Schlüsselrolle zukommt. Diese Zusammenhänge aufzudecken und Meliés die ihm gebührende Stellung zu verschaffen, ist das Thema der zweiten Hälfte des Films.

Ganz nebenbei präsentiert Scorsese einen regelrechten Kurs über die Anfänge des Kinos. Der Zuschauer bekommt Ausschnitte aus den klassischen Werken der Frühzeit des Mediums geboten: Szenen von den Brüdern Lumiere bis Charles Chaplin, Ausschnitte aus „Intolerance“, „The General“, „Doktor Caligari“, und anderes mehr. Der Schwerpunkt liegt natürlich bei den Werken von Georges Meliés. Der Film hat die Macht, Träume zu fangen und zu erzeugen, erfahren Hugo und Isabelle.

Bei den Stichworten Traum und Magie fallen die Motive des Films zusammen und verschränken sich: Das Innenleben bewegter Maschinen und die Herstellung künstlichen, mechanischen Lebens auf der einen, das Kino als realisierter Traum und die Herstellung dieser Träume mit Illusionsmaschinen auf der anderen Seite. Der Zuschauer lernt in Rückblenden Meliés als Zauberer und Regisseur kennen, der mit seinen Maschinen Illusionen erzeugt. „Hugo Cabret“ ist ein sehr persönlicher Film, vielleicht sogar der persönlichste seit „Hexenkessel“. Denn Scorsese erzählt hier über seine Leidenschaft für das Kino, die größte Maschine zur Herstellung von Illusionen und Träumen, die es jemals gab. Und er tut es, ohne auf irgendwelche Erwartungshaltungen Rücksicht zu nehmen. Denn das hat er schon lange nicht mehr nötig.

„Hugo Cabret“ basiert auf dem gleichnamigen Kinderbuch von Brian Selznick und auch im Trailer wird er als Kinderfilm präsentiert. Doch dies halte ich für ein Missverständnis, das die falschen Leute ins Kino locken oder zumindest falsche Erwartungen wecken könnte. Wer einen typischen Familienfilm erwartet, wird zu wenig Action und zu wenige Lacher finden, vielleicht gar die die filmhistorischen Einschübe als Bremse empfinden. Manchen Cineasten dagegen könnte der Film zu verspielt sein.

Martin Scorsese wendet sich mit seinem „Hugo Cabret“ an ein Publikum, das den Film als kunstvolles Medium mit ganz eigenen Gesetzen begreift und sich nicht einfach von seinen Illusionen vereinnahmen lässt, das aber bei allem Wissen über die Technik die Freude des kindlichen Staunens noch nicht verloren hat, oder sich zumindest manchmal nach dieser Unbefangenheit zurück sehnt.

[Link zu einer weiteren Filmkritik]

Benotung des Films :

Siegfried König
Hugo Cabret
(Hugo)
USA 2011 - 126 min.
Regie: Martin Scorsese - Drehbuch: John Logan - Produktion: Johnny Depp, Tim Headington, Graham King, Martin Scorsese - Bildgestaltung: Robert Richardson - Montage: Thelma Schoonmaker - Musik: Howard Shore - Verleih: Paramount - FSK: ab 6 Jahre - Besetzung: Asa Butterfield, Chloë Grace Moretz, Ben Kingsley, Sacha Baron Cohen, Jude Law, Helen McCrory, Emily Mortimer, Michael Stuhlbarg, Christopher Lee
Kinostart (D): 09.02.2012

DVD-Starttermin (D): 30.11.-0001

IMDB-Link: http://www.imdb.com/title/tt0970179/