Auszeit

(F 2001; Regie: Laurent Cantet)

Aus der Welt gefallen

Ein ungutes, seltsam klaustrophobisches Gefühl staut sich beim Zuschauer. Etwas sollte ausgesprochen werden und bleibt doch unausgesprochen. Je länger man dem sinnlos erscheinenden Zeitvertreib der Hauptfigur in Laurent Cantets zweitem, bemerkenswert starkem Langfilm „Auszeit“ (L’emploi du temps) folgt, ihrem ziellosen, selbstvergessenen Unterwegssein, desto gespenstischer wird die Frage, wie dieser Mann sein Doppelleben aushält. Erst allmählich enthüllen sich dem Zuschauer die Abgründe einer tiefen Verlorenheit, werden die Umrisse einer von Lügen aufgezehrten Existenz sichtbar, die ins Mark der Gesellschaft treffen.

Vor dreieinhalb Monaten hat Vincent (Aurélien Recoing) seine Stelle als Consultant in einer Firma verloren, für die er elf Jahre lang gearbeitet hat. Seither spielt er seiner ahnungslosen Familie und den alten Freunden eine Ordnung vor, die es nicht mehr gibt. Daß diese Täuschung überhaupt gelingt, sagt auch etwas über die Qualität seiner Beziehungen, in denen der Mangel an Kommunikation mit einem Blendwerk aus Äußerlichkeiten korrespondiert. Ablesbar ist das nicht nur an den leeren Konventionen eines wohlsituierten, vom Konsum verdorbenen Bürgertums, sondern auch am trügerischen Schein einer Arbeitswelt, deren konkrete Arbeit immer mehr in der diffusen Rhetorik eines vorgeblich undurchdringlichen Spezialwissens verschwindet.

Cantet, der bereits in seinem Debüt „Ressources humaines“ die Bruchlinien zwischen traditionellem Arbeitsethos und modernem Strukturwandel unter den Bedingungen des Kapitalismus differenziert gezeichnet hat, geht in „Auszeit“ noch einen Schritt weiter in der Analyse der modernen Arbeitswelt: Diese ist in einem undurchdringlichen Äußeren erstarrt. Ihre spiegelnden Oberflächen, eingefangen im seelenlosen Rhythmus der Angestellten, ihrem austauschbaren Erscheinungsbild und der flirrenden Architektur von Glasfassaden, täuscht die selbstverordnete Transparenz nur noch vor. In Wirklichkeit schottet sie sich ab, schließt sie aus. In ihrem Innern kreiert sie Formen einer neuen Entfremdung: eine fast undurchdringliche Lust- und Teilnahmslosigkeit.

Diese Hermetik macht die integrative Funktion der Arbeit in einer Gesellschaft, die ihre sozialen Beziehungen vorwiegend über Gehaltsklassen definiert, noch evidenter. So wie der Arbeitsplatz einerseits „kein öffentlicher Ort“ ist, gibt es andererseits kein „Außerhalb“ mehr. Deshalb spielt Vincent Rollen, imitiert er eine Geschäftigkeit, die ihn bis an den Rand der Selbsttäuschung führt, weil die „Angst, zu enttäuschen“, übermächtig geworden ist. Stundenlang unterwegs, im Auto, fühlt er sich von der Last der Gedanken befreit, wähnt er sich aufgehoben im wohligen Gefühl einer inneren Leere.

Weiß und leer, kalt und grau sind auch die winterlichen Landschaften, durch die sich Vincent, der unerreichbar bleibt, bewegt. Wie ein Ausgestoßener schläft er im Auto auf Park- und Rastplätzen, sucht er Entspannung in Hotelhallen und heimatlichen Unterschlupf in den Foyers anonymer Bürogebäude. Aber äußere Bewegung bedeutet in Cantets soghaftem Film nicht Aufbruch und Freiheit. Nicht einmal Entlastung oder Kompensation bietet dieses Sich-treiben-Lassen. Vincent driftet nurmehr durch eine Welt, aus der er gefallen ist.

Benotung des Films :

Wolfgang Nierlin
Auszeit
(L'emploi du temps)
Frankreich 2001 - 128 min.
Regie: Laurent Cantet - Drehbuch: Laurent Cantet, Robin Campillo - Produktion: Caroline Benjo - Bildgestaltung: Pierre Milon - Montage: Robin Campillo - Musik: Jocelyn Pook - Verleih: Alamode - FSK: ab 12 Jahre - Besetzung: Aurélien Recoing, Karin Viard, Serge Livrozet, Jean-Pierre Mangeot, Monique Mangeot, Nicolas Kalsch, Marie Cantet, Félix Cantet, Olivier Lejoubioux
Kinostart (D): 10.10.2002

DVD-Starttermin (D): 30.11.-0001

IMDB-Link: http://www.imdb.com/title/tt0279065/
Link zum Verleih: NULL