Wim Wenders: Die Pixel des Paul Cézanne und andere Blicke auf Künstler

Filmemacher Wim Wenders wird siebzig und veröffentlicht eine neue Textsammlung
von Wolfgang Nierlin

Bevor Wim Wenders, der am 14. August siebzig Jahre alt wird, Filme gemacht hat, hat er wie seine Kollegen von der Nouvelle Vague über Filme geschrieben; und zwar zunächst in der Zeitschrift Filmkritik, dem, so Wenders‘ etwas verkürzte Charakterisierung, „Zentralorgan der ‚Münchner Sensibilisten‘“. Über die Jahre sind so mehrere Textsammlungen entstanden, in denen der vielseitig interessierte Künstler, der neben seiner umfangreichen Arbeit als Spiel- und Dokumentarfilmregisseur auch fotografiert, dem Zusammenhang von Denken, Schreiben, Sehen und Filmemachen auf der Spur ist. Den jeweiligen Ausgangspunkt seiner Texte bilden oft Erinnerungen an Dreharbeiten, Begegnungen mit befreundeten Filmemachern oder auch die Auseinandersetzung mit den Werken unterschiedlicher Künstler, die nicht selten in ebenso empfindsame wie bewegende Lobreden mündet. Diese Künstlerportraits beschreiben einen vielschichtigen Dialog, der nicht nur Wenders‘ eigene ästhetische Vorlieben und Interessen spiegelt, sondern auch Korrespondenzen innerhalb seines Werkes sichtbar macht.

„Die Pixel des Paul Cézanne und andere Blicke auf Künstler“ lautet der Titel von Wim Wenders‘ neuem Buch, in dem sich der Autor mit Filmregisseuren, Malern, Fotografen oder auch dem japanischen Modedesigner Yohji Yamamoto (über ihn hat er den Film „Aufzeichnungen zu Kleidern und Städten“ gemacht) und der Choreographin Pina Bausch (über ihr Tanztheater ist der 3D-Film „Pina“ entstanden) beschäftigt; und das er ganz programmatisch, gewissermaßen mit einer existentiellen Setzung à la Descartes beginnt: „Ich schreibe, also denke ich.“ Wenders charakterisiert in dem so betitelten Aufsatz sein Schreiben als prozessuales, empirisches Erkenntnisinstrument, das intuitiv und spielerisch funktioniert. Erst durch die Sichtbarkeit als „geschriebenes Bild des Gedankengangs“ verschafft ihm das Schreiben intellektuelle Klarheit und im Weiteren auch eine Art Selbstvergewisserung. Dabei gewährt er dem Leser nicht nur intime Einblicke in seinen Arbeits- und Schreibprozess, sondern liefert sehr anschaulich und unverstellt auch eine Kostprobe desselben.

Überhaupt erweist sich der international renommierte Filmemacher in seinen Texten als genauer, empfindsamer Beobachter, der mit einer gewissenhaft forschenden Sprache um größtmögliche Klarheit ringt und dabei eine ansteckende Begeisterungsfähigkeit für die Gegenstände seiner Betrachtung vermittelt. Diesen nähert er sich sinnlich-konkret, mit Kennerschaft und einer großen Menschenliebe, vor allem aber im Bewusstsein einer künstlerischen Verwandtschaft. Was Wim Wenders an seinen Kollegen und Freunden bewundert, kennzeichnet von Anfang an auch sein eigenes visuelles Schaffen: Die Suche nach Wahrheit in der Verdichtung von Realität.

Diese in der gegenwärtigen Kunstkritik als unzeitgemäß apostrophierten Begriffe findet Wenders etwa rehabilitiert in den Fotografien von Barbara Klemm. „Die Dinge so zu zeigen, wie sie ‚wirklich‘ sind“, sei deren offensichtlicher Beweggrund. Verdichtete Realität bemerkt Wenders aber auch in den „magischen gegenständlichen Bildern“ des amerikanischen Malers Edward Hopper, dessen aufs Wesentliche reduzierten Ansichten auf vereinzelte Menschen zu „Vor-Bildern“ für viele Einstellungen in Wenders-Filmen wurden, etwa in „Der amerikanische Freund“ (1976) oder auch später in „The Million Dollar Hotel“ (2000). Dass Hopper darüber hinaus auch ein Geschichtenerzähler ist, verbindet ihn mit jenen Filmregisseuren, deren Werke Wenders voller Bewunderung und Zuneigung sehr anschaulich beschreibt und analysiert.

Zu ihnen zählen das Erzählergenie Samuel Fuller, der überdies in mehreren Wenders-Filmen als Gaststar aufgetreten ist, der Stilist Douglas Sirk, den Wenders aufgrund seiner bildgewaltigen Melodramen zum „Dante der Soap Operas“ erklärt, sowie Anthony Mann, dessen Western im jungen Besucher der Pariser Cinémathèque Mitte der 1960er Jahre die Filmbegeisterung erst weckten. „Reines, pures Kino“, getragen von einer „eigenen Handschrift“ entdeckt Wenders in den Filmen Manns und staunt über deren „gelassenen Erzählfluss“, die „visuelle Kraft“ ihrer Bilder sowie die „wundersame Geschlossenheit“ von Inhalt und Form. Das Kino Anthony Manns spricht eine eigene Sprache. Sein Realismus zielt auf keinen verborgenen Hintersinn, sondern ist „reine Evidenz, reines Sein“; was Wenders mit diesen Worten schließlich vor allem im Blick auf das „himmlische Kino“ von Yasujiro Ozu formuliert. In der Begegnung mit den Filmen des japanischen Meisterregisseurs erlebt er unverhofft einen „Zustand der Glückseligkeit“; und er betritt dabei zugleich „das (inzwischen längst verlorene) Paradies des Filmemachens.“

Wim Wenders: Die Pixel des Paul Cézanne und andere Blicke auf Künstler
Herausgegeben von Annette Reschke
Verlag der Autoren, Frankfurt a. M. 2015,
216 Seiten, 15 Euro