Mariella Schütz: Explorationskino – Die Filme der Brüder Dardenne

Die Erforschung der Nebensachen
von Andreas Thomas

Eine „Inauguraldissertation zur Erlangung des akademischen Grades eines Doktors der Philosophie“, die nicht jedem Freund dardennescher Filme Freude bereiten wird.

In ihrer bei Schüren veröffentlichten Doktorarbeit geht die Romanistin und Filmwissenschaftlerin Mariella Schütz akribisch der These nach, dass die Filme der Brüder Luc und Jean-Pierre Dardenne eine dritte Form von Kino seien, so genanntes „Explorationskino“ (Wortschöpfung der Autorin), weil sie zwischen Dokumentation und Fiktion zu verorten seien. Im Mittelpunkt stehen dabei Analysen der Dardenne-Filme „Rosetta“, „Le Fils“ und „L’Enfant“, die immer wieder um die Frage kreisen, wie solch sperrige Filme ein so großes Publikum erreichen können. Kaum hinterfragt sind dabei aber schon ihre Begriffe von Fiktion und Dokumentation, wenn sie z.B. als Charakteristikum des „explorativen Kinos“ „sensationslose und diskrete Spurensuche“ anführt, “wobei die Spannung durch das Schwanken zwischen Involvierung, Teilnahme und Beobachtung, Distanz entsteht.“

Davon abgesehen, dass Grammatik und Satzbau (wie auch in diesem Beispiel) spätestens vor der Veröffentlichung beim Schüren Verlag dringend eines offenbar nicht vorhandenen Lektorats bedurft hätten, zählt Schütz hier erzählerische Eigenschaften auf, die natürlich seit Jahrzehnten zum Repertoire des fiktionalen Kinos gehören; wenngleich – und hier findet sich der Aufhänger, an dem das komplette Werk von Schütz baumelt – die Dardenne-Filme natürlich im Gewand der dokumentarischen Authentizität daher kommen. Es kann also nicht davon die Rede sein, dass sich das so genannte Explorationskino der Dardennes irgendwo zwischen fiktionalem und dokumentarischem Kino befindet, denn es stellt auch nur eine von unzähligen Spielarten fiktionalen filmischen Erzählens dar, eine, zugegeben, die die Aufmerksamkeit und aktive Beteiligung des Zuschauers auf besondere Weise fordert.

Der Art und Weise, wie diese Filme das machen, widmet Schütz einen Großteil ihrer Aufmerksamkeit. Aufmerksamkeit über Gebühr, wenn pseudophilosophische Stilblüten solcher Art daraus erwachsen: „Nur im Aufbruch fertiger Normen wird man kreativ. Dies bedarf Mut, weil es eine Zumutung ist, über die man anmutend neue Vermutungen entwerfen kann.“ Es geht Schütz vornehmlich dabei in erster Linie um das Wohl und Wehe des Rezipienten, dem es durch die dardenneschen Filme möglich werde, ein „Feingefühl und Verständnis für prinzipielle Fragen des eigenen wertorientierten, zwischenmenschlichen Verhaltens und Handelns<<>>“ zu entwickeln. Es sei in den Filmen der Dardennes nicht wichtig, „eine Antwort darüber zu finden, ob Rosetta richtig handelt, ob sie gerecht behandelt wird, ob soziale Randgruppen mehr oder weniger Geld vom Staat erhalten sollen, ob die soziale Marktwirtschaft gerecht ist oder nicht oder wie die Schuldfrage von Francis oder von Bruno zu beantworten ist“, die Dardenne-Rezeption, so Schütz, führt immer so ausschließlich in den persönlichen Bereich, dass für übergreifende soziale oder ökonomische Betrachtungen trotz aller von Schütz auf einigen Buchseiten entwickelter „Intersubjektivität“, die durch das „explorative“ Kino zustande kommen möge, der gesellschaftlich-politische Zusammenhang verschlossen bleibt. Der Dardenne-Zuschauer verharrt, nach Schütz, bei Fragen, wie: „Weiche ich vor Unschönem und Abstoßendem aus? Bin ich offen für ein Überdenken meiner (Vor-)bilder? Kann ich eigentlich loslassen? Verrenne ich mich in eine ‚fixe Idee‘? Wovor habe ich Angst?“ Etc. pp. Man könnte meinen, Schütz habe einen Wochenend-Selbsterfahrungskurs belegt, anstatt einen Dardenne-Film gesehen zu haben.

Natürlich erschweren die Dardenne-Filme dem Zuschauer den Zugang, weil sie versuchen, möglichst wenige Klischees zu bedienen, möglichst viele Fragen zu stellen und möglichst wenige Antworten zu geben. Aus ihren Filmen spricht ein starkes Bedürfnis nach dem Unverfälschten, Unmanipulierten, offenbar weil sie selbst den Anspruch haben, möglichst nah an unsere Wirklichkeit heran zu kommen. Deshalb verlangen sie auch vom Zuschauer eine wache und kritische Aufmerksamkeit, ein Sich Einlassen können, auch auf Szenen und (wackelige) Bilder, die ihn zunächst befremden, weil er sie nicht gewohnt ist und weil sie zunächst aus dem filmischen Zusammenhang heraus nicht erklärbar sind.

Dieses Verfahren wird von Schütz zwar richtig erkannt, aber sie bleibt annähernd 240 Seiten lang im Stadium der Rezeptions-Analyse stehen, als wäre die dardennesche Inszenierungstechnik schon auch Inhalt, Kernaussage und das künstlerische Ziel ihrer Filme, und als ginge es in ihren Filmen lediglich darum, die Wahrnehmung des Zuschauers zu verändern, seine Sicht auf die Welt oder gar ihn selbst zu „therapieren“, so zuschauerzentriert jedenfalls liest sich das bei Schütz.

Eine übergründliche Auseinandersetzung mit den Phänomenen des veränderten Zeigens/Wahrnehmens einer „widerständigen Wirklichkeit“ mag zwar ihren Sinn haben, solange man den Eindruck behält, dass die Autorin dahinter den Film (auch im „intersubjektiven Sinne“) verstanden haben möge, kritisch wird es aber dann, wenn offenbar wird, dass sie zentrale Punkte der Handlung trotz intensiver Analyse nicht erkennen kann: In einer der wichtigsten Szenen von „Rosetta“ beobachten wir, wie Rosettas Freund und Arbeitskonkurrent Riquet in einen Teich fällt und Rosetta zunächst keine Anstalten unternimmt, ihm herauszuhelfen, obwohl sie selbst kurz vorher erfahren hat, wie schwierig es ist, sich alleine aus dem morastigen Boden des Teiches zu befreien. Aus dem unmittelbaren Filmzusammenhang können wir schlussfolgern, dass, wenn Riquet „weg wäre“, sie seinen Arbeitsplatz bekommen würde, denn in der Szene davor fragt Rosetta Riquets Chef, ob, sobald eine seiner Stellen frei würde, sie diese übernehmen könne, und er bejaht. Alles deutet darauf hin, dass Rosetta seinen Tod durch Ertrinken wenn nicht sogar aktiv herbeiführen will (sie lässt nämlich offenbar absichtlich die ihr von ihm gereichte Hand los, als er sich über den Teich beugt, um etwas heraus zu holen, so dass er hineinfällt – auch das entgeht der Autorin), sie ihn zumindest durch unterlassene Hilfeleistung in Kauf nehmen würde, nur um einen, nämlich seinen, Job zu bekommen.

Schütz macht sich da andere Gedanken: „Der Ruf nach Hilfe wird von Rosetta nicht erwidert. Sie beobachtet ihn, scheint zu überlegen, ob sie ihn seinem Schicksal überlassen soll, holt dann aber einen langen Stock, um ihm aus dem Wasser zu helfen. Ihr Zögern und die Entscheidung zur Hilfeleistung werden später im Streitgespräch mit Riquet aufgegriffen. In dieser ehrlichen Nichterfüllung unserer Erwartungshaltung liegt das realistische Moment der Filme der Brüder Dardenne. Auch in unserer Realität ist es nicht üblich, dass sich unsere Wünsche erfüllen, dass unsere Sehnsüchte so „einfach“ befriedigt werden. Deshalb schauen wir uns auch gerne romantische, märchenhafte, etc. Filme an, gerade weil sie unsere Phantasien erfüllen.“

Aha! Wenn man Schütz also folgen mag, dann handelt Rosetta nur deshalb so unkonventionell (und implizit mörderisch!), weil die Erwartungshaltung des Zuschauers unterlaufen werden soll, welcher – auch dies wird übrigens bündig und pauschal unterstellt – sowieso lieber „Die fabelhafte Welt der Amelie“ sehen würde als „Rosetta“. Ein genialer pädagogischer Schachzug der Dardennes. Auch hier steht für Schütz offenbar der Zuschauer und sein Rezeptionsvermögen oder -unvermögen im Mittelpunkt des Dardenne-Vermittlungs-Interesses. Dass die Figur Rosetta aber selbst und handlungsintern ein Motiv für ihre unterlassene Hilfeleistung haben könnte (und zwar im Interesse einer dezidierten Filmhandlung), entgeht der Autorin in ihrem ständigen Kreisen um Wahrnehmungsweisen, um die „Widerständigkeit“ des explorativen Kinos und um das problematische Befangensein im persönlichen Vorurteil, das aufzubrechen die Dardenne-Brüder angetreten sind …

Ein anderer, grundlegender, Analysefehler ist das Übersehen einer im Film „La Promesse“ tatsächlich unterlassenen Hilfeleistung, die zum Tode führt. Als ein „illegaler“ Arbeiter während einer polizeilichen Kontrolle vom Gerüst fällt, deckt sein Chef und Vermieter zusammen mit seinem Sohn den Schwerverletzten mit einer Plastikplane zu und schüttet obendrein noch Sand darüber, damit ihn die Kontrolle nicht entdeckt. Schließlich lässt er den Familienvater sterben, um seinen kleinen Illegalen Betrieb aufrecht erhalten zu können. In „La Promesse“ wird ein Mensch bei lebendigem Leib begraben. Bei Schütz wird aus dieser Ungeheuerlichkeit nur ein Unfall bzw. eine traurige Nebensache: „Die Abhängigkeit zwischen Vater und Sohn gerät ins Wanken, als Igor Hamoidou, der bei Bauarbeiten vom Gerüst fällt, im Sterben ein Versprechen gibt: Nach seinem Tod wird er sich um dessen Frau und Sohn kümmern.“

Kein Wort von Schütz über diesen Totschlag, über dieses für den Film zentrale Motiv, weil die Autorin ihn ganz einfach nicht bemerkt hat. Für eine Arbeit, die besonders das genaue Hinsehen propagiert, durchaus ein Armutszeugnis.

Ein Buch, das sich mit den Brüdern Dardenne befasst, sollte zumindest deren in allen ihren Spielfilmen immer wieder kehrendes Hauptmotiv erkennen und thematisieren: der verminderte Wert des Menschenlebens als Gradmesser der sozialen Kälte unserer Gesellschaft. Es würde nun den Rahmen dieser Rezension sprengen, diese Beispiele im Einzelnen zu erläutern, aber der rote Faden ist deutlich erkennbar: In der Vorgeschichte von „Le fils“ wurde ein Junge offenbar ohne einen nachvollziehbaren Grund getötet, in „L’enfant“ verkauft ein Vater sein eigenes Baby, in „Lornas Schweigen“ wird aus Profitgründen ein „Junkie“ ermordet. In allen Beispielen liegt einer zeitgenössisch-gesellschaftlichen Bestandsaufnahme eine situative Bewertung bzw. Abwertung des menschlichen Lebens zugrunde. Jedoch nur einmal, bei „L’enfant“, worin ja konkret ein Mensch mit materiellem Wert gemessen und bezahlt wird, wird die Autorin auf diese Parabelhaftigkeit aufmerksam und geht ihr ausführlicher auf den Grund. „Lornas Schweigen“ hingegen wird wieder so abgehandelt, dass es einem kalt den Rücken herunter läuft:

„Ihr aktueller und und letzter Film LA SILENCE DE LORNA (2008) greift wie die vorangehenden Filme der Brüder einen Aspekt auf, der alltäglich ist und daher eigentlich keiner besonderen Aufmerksamkeit bedarf. Ein typisches „fait divers“, das wir nicht mehr beachten, weil es unzählige vergleichbare Schicksale gibt: Eingehen einer Scheinehe, um eine Staatsbürgerschaft zu erlangen, Drogenentzug, Schwarzarbeit, Schlepperbanden. Wie bei den anderen Filmen stellt sich die Frage, wieso sich die Brüder damit befassen und einen Film daraus machen.“

Kein Wort über das grauenhafte Zentrum des Films, die in der monetären Logik der Protagonisten folgerichtige kaltblütige Ermordung eines jungen Mannes, von der wir hoffen wollen, dass Schütz diese nicht als belanglos empfindet, obwohl sie sie auch im weiteren Verlauf ihrer Darstellung nur einmal erwähnt.

Da Schütz ausgerechnet dieses in den Dardenne-Filmen zentrale Thema des Wertes eines Menschenlebens zu selten im Auge hat, verlieren sich ihre Beobachtungen häufig an der Peripherie. Auch der von ihr gern und mehrfach bemühte Philosoph Heidegger verhilft da nicht zu mehr Tiefenschärfe, aber wirkt immerhin als Vergrößerungsglas der Unschärfe, wenn sie ihn zitiert: „Die Sache ist so, weil man es sagt. In solchem Nach- und Weiterreden, dadurch sich das schon anfängliche fehlen der Bodenständigkeit zur völligen Bodenlosigkeit steigert, konstituiert sich das Gerede.“ (Orthografische Fehler des Buches sind hier übernommen) Sollte sich beim Leser dieser Zeilen kein Schwindelgefühl einstellen, so tragen sie aber auch nichts zur Erhellung der Dardenne-Filme bei, selbst wenn Schütz das (laut Schütz von Heidegger nicht pejorativ gemeinte) „Gerede“ in ein „Gesehe“ verwandelt.

Im Übrigen beeinträchtigen nicht nur die orthografischen Fehler den Lesegenuss, auch die vielen in der Originalsprache belassenen englischen und französischen Zitate erheben das Werk zwar zu wissenschaftlichem Rang, erschweren aber den Erkenntnisgewinn des Normalfilmverbrauchers, und das ist schade, denn offenbar sind es vor allem die Dardenne Brüder selbst, die ihr Werk in diesem Buch am besten, hier in offenbar radebrechendem Englisch, beschreiben können:

„In a social situation, the market, where everyone is put into competition with everybody else – in a context where people are in permanent rivalry and organised like that by society and the economy – how is someone like Rosetta going to be able to love someone when the situation asks her to consider him as her enemy, her rival? How am I going to be able to love my rival and get beyond that? If not – will I kill him, make him fall? That’s what interests us.” (Orthografische Fehler übernommen)

Hätte Schütz sich ebenso wie die Dardennes für diese zentrale Frage aller ihrer Filme interessiert, dann hätte sie vielleicht auch jenen roten Faden des buchstäblichen Werts eines Menschenlebens als Gradmesser für die Werte der Gesellschaft wahrgenommen und aufgegriffen, so aber bietet sie nur ein Beispiel dafür, dass Doktorarbeiten nichtmal abgeschrieben sein müssen, um enttäuschend zu sein.

Mariella Schütz: „Explorationskino – Die Filme der Brüder Dardenne“
Schüren, 2010, 260 Seiten, 24,90 Euro