Angewandte Filmkritik #1-10

von Jürgen Kiontke

Angewandte Filmkritik #10: Weihnachtsfeier
(Kino, vollbesetzt mit Filmkritikern, es soll der übliche Weihnachtsblockbuster gezeigt werden)

Filmkritiker: Hey Anke, bist du nachher bei uns auf der Weihnachtsfeier?
Filmkritikerin: Es reicht doch wohl, wenn ich das ganze Jahr mit euch arbeiten muss. Da muss ich doch nicht auch noch mit euch feiern.

Angewandte Filmkritik #9: Wanderarbeit
Von Regisseuren sagt man, sie stünden zuweilen mit einem Bein im Knast, weil sie für die Finanzierung ihrer Filmprojekte schon mal Kopf und Kragen riskierten. Schauspieler unterzeichnen kurze Zeitverträge. Um den Rest des Jahres im Flur der Künstlervermittlung in der Arbeitsagentur rumzuhängen.

Statisten werden nicht reich; über die Entwicklung des Praktikums beim Film zu Zeiten des Mindestlohns werden noch Studien erwartet. Und gleich verschiedene Gewerkschaften dauerbestreiken manche Kinos wegen der Dumpinglöhne.

Nun murrt eine weitere Berufsgruppe: Die der Festivalmitarbeit. Geschätzte 400 Filmfestivals gibt es in Deutschland. „Während diese Entwicklung rasant voranschritt, blieb ein Aspekt bislang unbeachtet: Filmfestivals sind Arbeit- und Auftraggeber“, schreiben die Initiatoren des Aufrufs „Festivalarbeit gerecht gestalten“, zu denen Andrea Kuhn vom Menschenrechtsfilmfestival in Nürnberg und Grit Lemke vom Dokfilmfest Leipzig gehören.
In Betriebswirtschaftsdeutsch heißt es weiter: „Sie bilden mittlerweile ein eigenes, zahlenmäßig relevantes Arbeitsmarktsegment im Rahmen der Kreativwirtschaft.“ Die Entwicklung der vielfältigen Festivallandschaft, „deren Bedeutung innerhalb des filmwirtschaftlichen Verwertungskreislaufs auch als Standortfaktor nicht hoch genug zu schätzen ist“, wäre niemals möglich gewesen „ohne die Arbeit – und vor allem Selbstausbeutung! – tausender Festivalarbeiter*innen“. Festivalarbeit sei Saisonarbeit, deshalb wachse auch das Festivalnomadentum.

Nun soll gerecht und nachhaltig entlohnt werden und nicht immer nur der Werkvertrag unterschrieben. Honorarempfehlungen und Tarife müssten entwickelt und auch Fortpflanzung sowie Ableben abgesichert werden. Denn: „Ein Kind zu bekommen, krank oder gar alt zu werden, ist in unserer Branche nicht angeraten, da Mindeststandards sozialer Absicherung hier oft nicht gelten“.

Standortpolitik und Wanderarbeit – auch die Beweger der bewegten Bilder sind hin- und hergerissen. Als die ersten Filmkritiken erschienen, war das „ursprünglich plebejisch-proletarische Medium der Jahrmärkte und Wanderkinos über die Destillen- und Ladenkinos der Vorstädte hinaus in die kulturellen Reservate des Bürgertums in den Zentren der Großstädte“ vorgedrungen, heißt es bei dem Medienwissenschaftler Hans-Bernd Heller. Es scheint, dass die Jahrmärkte – und vor allem ihre Arbeitsbedingungen – hinterher gewandert sind.

Angewandte Filmkritik #8: Meyer, Schauspielerverband
Ein Mensch, der in seinem Beruf wahrscheinlich täglich als Experte angewandter Filmkritik gefragt sein dürfte, ist Hans-Werner Meyer, Schauspieler und Vorstandmitglied des Bundesverbands Schauspiel. Meyer hat schon in über 120 Film- und Fernsehproduktionen mitgespielt; die schön gestaltete Homepage seines Verbands ist voller wertvoller Informationen für die Klientel, die er vertritt. Vielgefragte Stichworte heißen zum Beispiel: Arbeitslos – Bewerbung – Hartz IV – Pensionskasse – Sozialer Schutz – Tarifverhandlungen.

Ich kann mir vorstellen, wie Herrn Meyers Arbeits- und Beratungspraxis aussieht. Und wie es scheint, ist er an einem Punkt angelangt, an dem man kein Drehbuch mehr für gute Sätze braucht – vor allem, wenn es um die materielle Praxis seiner Schützlinge geht.

Aus Anlass einer britischen Studie, die zu dem Ergebnis kam, dass nur wenige britische Schauspieler aus dem Arbeitermilieu kommen, wurde Meyer neulich gefragt, aus welchen Schichten die deutschen Schauspieler stammen. Meyers Antwort: „Auch wenn vielleicht grundsätzlich weniger Schauspieler aus dem Prekariat stammen, landen die meisten bedauerlicherweise doch am Ende dort.“

Vielleicht sollten auch Drehbuchschreiber sich mal von Meyer beraten und Sätze diktieren lassen, damit der deutsche Film aus dem Quark kommt.

Angewandte Filmkritik #7: Im Ultraschall
Auch wenn es keine Filmkritik gäbe: Es würde Menschen geben, die von sich aus 16 Stunden am Tag im Dunkeln sitzen und anderen bei der Arbeit zuschauen. Denn: „Filmkritik ist eine Haltung“, wie Frédéric Jaeger sagt. Er muss es wissen. Er ist der Chef des Verbandes der deutschen Filmkritik.

Filmkritik ist damit aber auch eine Alltagshandlung. Niemand, schon gar nicht der das Dunkle liebende Filmexperte, bleibt davon unbewertet. Ach, schnieef, das war eine Schmonzette! Das ging ganz schön an die Nieren – Aua!

Erst kürzlich hatte ich das Vergnügen, Opfer einer solchen Rezension zu werden. Der vom Schauspiel unbeeindruckte Autor schrieb nach Sichtung eines Dokumentarfilms im Ultraschall-Design über das Innenleben seines Protagonisten: „Konkrement in der oberen Kelchgruppe, 6,4 Millimeter. Wir empfehlen URS.“

Echt jetzt: Keine dramaturgisch überzeugende Performance geliefert. Das Gesundheitssystem als gefürchtete Kulturinstanz. Was wir anderen antun – den Worth-, Rie- und Brüggemanns dieser Welt -, nämlich behaupten, ihre Filme seien nicht überzeugend, unsere ganzen Kritikeransprüche blabla, können wir nicht mal am eigenen Körper einlösen. Und das schlimme Schlussurteil kommt erst noch: „Äußere Genitalien unauffällig.“

Eine urologische Untersuchung wie eine Rosamunde-Pilcher-Verfilmung.

Angewandte Filmkritik #6: Zahnarzt
„Die Darstellung des Zahnarztes im Film ist für den Berufsstand wenig schmeichelhaft. Das Bild ist geprägt durch ein stereotypes marktschreierisches Muster, das sich medial gut verkaufen lässt: Gewalt, Habgier und ein schräger Charakter.“
(aus: Zahnärztliche Mitteilungen, Zeitschrift der Bundeszahnärztekammer)

Angewandte Filmkritik #5: Nachruf
Der Literaturkritiker Helmuth Karasek war auch Filmkritiker, ich durfte ihn sogar mal ganz nah in diesem Beruf erleben. Es war im Jahr 1998, da saß ich in der Pressevorführung des Monsterschockers „Octalus – Der Tod aus der Tiefe“. Es ging um Riesenwürmer, die ein Schiff von unten anbohrten und die gesamte Besatzung auffraßen.

Es war stockdunkel im Kino, als sie dies taten. Da näherte sich von hinten ein Schatten, irgendetwas Gefährliches. Ich erschrak mich mächtig, dann sah ich: Es waren zwei Füße in Strümpfen. Ich drehte mich herum und sah, dass sich hinter mir Kollege Karasek im Sessel flätzte – Schuhe aus und die Mauken auf die Kopfstütze des Sessels neben mir drapiert. Ganz schön ungehobelt, der Kritiker! Ein Leben auf großem Fuß, sozusagen. Wo der Mensch tot ist, sagt man natürlich nichts Schlechtes nach über ihn und seine Einzelteile – sondern: Danke für den haptischen Horror aus den Tiefen des Kinos. Und so endet mein Nachruf mit dem Satz: Ruhet in Frieden, Kritikerfüße!

Angewandte Filmkritik #4: Doing Gender
Nach dem Film „Ewige Jugend“

„Sehr real.“
„Geschlecht ist eine Konstruktion. Alter nicht.“

Angewandte Filmkritik #3
Kinobesucherin I: „Dit is der Marky Mark. Der heißt Mark Wahlberg jetze.“

Kinobesucherin II: „War dit nichn Nazi? Der hat doch Schwarze vaprüjelt, inner Gang…!“

Kinobesucherin I: „Nee, der hatte den doof anjemacht. Und sein‘ Bruder wollta ooch vateidijen, der Marky Mark. Aba jetze is allit jut. Der hatte voll die Muckis, deswejen hatta ooch Unterwäsche jemodelt.“

Angewandte Filmkritik #2
(Gymnasium in Deutschland, 10. Klasse)

Filmkritiker: „Hallo, ich stelle heute den Beruf des Journalisten vor.“

Mädchen 1: „Muss ich mitschreiben?“

Filmkritiker: „Ja! Ich arbeite als Filmkritiker und komme übrigens grad vom Filmfest. Ich zeig euch mal einen Ausschnitt aus dem Eröffnungsfilm.“

(Eine Minute Schweigen)

Mädchen 1: „Den kenn ich. Das ist der aus dem Nazifilm, der hieß… Wie hieß der noch?“

Mädchen 2: „’Napola’“. So inner Schule von der SS.“

Mädchen 3: „Ey, guck ma‘, das ist doch der, den die Dani so krass gestalkt hat! Die hatte nachher alles von dem, Handynummer, E-Mail, Adresse…“

Junge: „Die ist jetzt im Krankenhaus.“

Mädchen 3: „Ich will auch Filmkritikerin werden! Verdient man da viel?“

Ich: „Geht so…“

Mädchen 3: „Egal, ich schaff das schon!“

Mädchen 1: „Vielen Dank für den Vortrag. Das war echt cool.“

Angewandte Filmkritik #1
(Zwei junge Frauen im Kino, vor der Pressevorführung von „Mein Herz tanzt“, dem neuen Film von Eran Riklis über arabische Israelis.)

Filmkritiker: „Und für wen schreibt ihr?“

Autorin I: „Wir sind von der Bundeswehr. Die Jungs brauchen ja auch mal einen Film über eine Liebesbeziehung. Und Mädels haben wir ja auch!“

Autorin II: „Außerdem passt das ja wie die Faust aufs Auge – zum 50. Jahrestag der diplomatischen Beziehungen zwischen Israel und Deutschland.“

Diese Texte sind zuerst erschienen in: Konkret

Bild: Woody Allens „Annie Hall“ (1977) (© MGM / 20th Century Fox)